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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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»Er ist einer unserer Insassen. Ein recht interessanter Fall obendrein. Ist schon seit fünfunddreißig Jahren bei uns.«
    »Aber er ist doch so normal wie Sie und ich?«, sagte Angela.
    »Ja, den Eindruck macht er bestimmt«, entgegnete der Arzt. »Und während der letzten zwanzig Jahre haben wir ihn auch dementsprechend behandelt. Er ist die Seele unserer Anstalt. [181] Natürlich gehört er nicht zu den Privatpatienten, aber wir gestatten ihm, ganz ungezwungen mit ihnen zu verkehren. Er spielt ausgezeichnet Billard, führt an unseren Konzertabenden Zauberkunststückchen vor, kümmert sich um ihre Grammophone, fungiert als persönlicher Diener und berät sie bei Kreuzworträtseln und ähnlichen… ehem… Steckenpferden. Wir erlauben ihnen, dass sie ihm für die erwiesenen Dienste ein kleines Trinkgeld geben, und im Laufe der Jahre muss er sich schon ein nettes Sümmchen zusammengespart haben. Er versteht es, sogar mit den Allerschwierigsten fertigzuwerden. Wirklich ein unersetzlicher Mann für unsere Anstalt!«
    »Ja, aber weshalb ist er denn hier?«
    »Ach, das ist eine traurige Sache. Als ganz junger Mann hat er jemanden umgebracht – eine junge Dame, die er überhaupt nicht kannte. Er hat sie vom Fahrrad gestoßen und dann erwürgt. Er hat sich sofort gestellt, und seitdem ist er hier.«
    »Aber jetzt ist er doch bestimmt vollkommen ungefährlich? Weshalb wird er nicht entlassen?«
    »Oh, das würde er, wenn es in jemandes Interesse wäre. Er hat keine näheren Verwandten, nur eine Stiefschwester, die in Plymouth wohnt. Eine Zeitlang pflegte sie ihn regelmäßig zu besuchen, aber sie kommt schon seit Jahren nicht mehr. Er [182] ist hier ausgesprochen glücklich, und Sie können mir glauben, dass wir nicht den ersten Schritt tun werden. Dafür ist er uns viel zu nützlich.«
    »Aber es kommt mir so ungerecht vor«, sagte Angela.
    »Sie müssen an Ihren Vater denken«, sagte der Arzt. »Ohne Loveday, der für ihn den Sekretär spielt, wäre er aufgeschmissen!«
    »Trotzdem kommt es mir ungerecht vor!«
    II
    Mit dem Gefühl, dass hier eine Ungerechtigkeit begangen wurde, verließ Angela die Heilanstalt. Auf ihre Mutter hatte es keinerlei Eindruck gemacht.
    »Stell dir das mal vor – sein Leben lang ist er in einer Klapsmühle eingesperrt!«
    »Er hat versucht, sich in der Orangerie zu erhängen«, erwiderte Lady Moping, »noch dazu in Gegenwart der Chester-Martins!«
    »Ich spreche nicht von Papa. Ich meine Mr. Loveday!«
    »Der ist mir nicht bekannt, glaube ich.«
    »Doch – der Verrückte, der auf Papa aufpassen soll!«
    [183] »Der Sekretär deines Vaters? Ein sehr anständiger Mensch, fand ich, und für seine Aufgabe außerordentlich geeignet!«
    Angela ließ die Frage einstweilen auf sich beruhen, doch am folgenden Tag beim Mittagessen kam sie darauf zurück.
    »Mama, wie holt man jemanden aus der Klapsmühle?«
    »Herausholen? Meine Güte, Kind, du wirst doch hoffentlich nicht im Ernst deines Vaters Rückkehr zu uns erwägen?«
    »Nein, nicht Papa! Ich spreche von Mr. Loveday.«
    »Angela, mir scheint, du bist völlig von Sinnen. Es war wohl ein Fehler, dich auf diese kleine Stippvisite mitzunehmen.«
    Nach dem Mittagessen verschwand Angela in der Bibliothek und vertiefte sich dort in das Irrenrecht, wie es vom Konversationslexikon dargestellt wurde.
    Ihrer Mutter gegenüber brachte sie das Thema nicht wieder auf, doch vierzehn Tage später, als es darum ging, ihrem Vater für die Feier seines elften Jahrestages ein paar Fasanen zu bringen, bot sie erstaunlich bereitwillig an, sie selbst abzugeben. Ihre Mutter beschäftigte anderes, und sie schöpfte keinen Verdacht.
    [184] Angela fuhr mit ihrem kleinen Wagen zur Heilanstalt, und nachdem sie das Wildbret abgegeben hatte, fragte sie nach Mr. Loveday. Er war gerade damit beschäftigt, eine Krone für einen Insassen anzufertigen, der jeden Augenblick erwartete, zum Kaiser von Brasilien gesalbt zu werden; doch ließ er seine Arbeit im Stich und gönnte sich ein paar Minuten Unterhaltung mit Angela. Sie sprachen über die Gesundheit und den Gemütszustand ihres Vaters. Nach einem Weilchen erkundigte sich Angela: »Möchten Sie niemals hier raus, Mr. Loveday?«
    Mr. Loveday blickte sie mit seinen sanften graublauen Augen an. »Ich bin sehr an das Leben hier gewöhnt, Miss. Ich habe die armen Menschen hier gern, und ich glaube, dass einige mich ebenfalls gernhaben. Wenigstens glaube ich, dass sie mich vermissen würden, wenn ich fortginge.«
    »Aber denken Sie

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