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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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wurden aus [197] dem Klassenzimmer gerufen und durch die Frau des Direktors vom Tod ihres Vaters unterrichtet. Sie weinten, weil man das von ihnen erwartete, und ein paar Tage wurden sie von Lehrern und Mitschülern sehr zuvorkommend behandelt.
    Erst in den nächsten Ferien bekamen sie die Bedeutung dieser Veränderung vor Augen geführt. Mrs. Kent-Cumberland war plötzlich viel empfindsamer – und viel knauseriger. Sie neigte zu nie gekannten Tränenausbrüchen, wobei sie Gervase an sich drückte und rief: »Mein armer vaterloser Junge!« Und dann wieder sprach sie schwermütig von Erbschaftssteuern.
    V
    Ein paar Jahre blieben die »Erbschaftssteuern« ein stehender Begriff im Haus.
    Als Mrs. Kent-Cumberland das Londoner Haus vermietete, als sie auf Tomb einen Gebäudeflügel schloss, als sie das Personal auf vier Dienstboten und zwei Gärtner verkleinerte, als sie die Blumenbeete »fahrenließ«, als sie ihren Bruder Ted nicht mehr zu Besuch einlud, als sie die Ställe leerte und sich geradezu fanatisch gegen die Benutzung des Wagens sperrte; wenn das [198] Badewasser kalt war und es keine neuen Tennisbälle gab, wenn die Schornsteine verschmutzt waren und auf dem Rasen Schafe weideten, wenn Tom die abgelegten Sachen von Gervase nicht mehr passten, wenn sie ihm in der Schule die »Extraausgaben« für Handwerksstunden und Morgenmilch verweigerte – stets war die »Erbschaftssteuer« schuld.
    »Alles für Gervase«, erklärte Mrs. Kent-Cumberland. »Wenn er den Besitz übernimmt, soll er ihn schuldenfrei übernehmen, wie sein Vater.«
    VI
    Im Jahr nach ihres Vaters Tod kam Gervase nach Eton. Normalerweise wäre Tom ihm zwei Jahre später dorthin gefolgt, aber in ihrem neuen Hang zur Sparsamkeit machte Mrs. Kent-Cumberland diese Anmeldung rückgängig und erkundigte sich im Bekanntenkreis nach den weniger berühmten und weniger teuren Privatschulen. »Die Erziehung ist genauso gut«, sagte sie, »und viel geeigneter für einen jungen Mann, der in der Welt seinen eigenen Weg zu machen hat.«
    Tom fühlte sich durchaus wohl auf der Schule, auf die man ihn schickte. Sie war sehr trist und [199] sehr neu, zuträglich, progressiv und in dem Aufschwung, den die höhere Bildung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren erlebte, auch ganz einträglich und alles in allem »durch und durch geeignet für einen jungen Mann, der in der Welt seinen eigenen Weg zu machen hat.« Er hatte einige Freunde, die er in den Ferien nicht mit nach Hause bringen durfte. Er wurde in die Schwimm- und in die Wandballmannschaft seiner Schule aufgenommen, spielte ein paarmal in der zweiten Kricketmannschaft und war Zugführer im Kadettenkorps; er ging in die sechste Klasse, schaffte im letzten Jahr die Hochschulreife, wurde Aufsichtsschüler und genoss das Vertrauen des Hausvaters, der ihn als einen »sehr ordentlichen Kerl von einem Jungen« bezeichnete. Er verließ die Schule mit achtzehn und ohne das mindeste Verlangen, sie oder einen seiner Lehrer oder Mitschüler je wiederzusehen.
    Gervase ging damals aufs Christ Church College. Tom besuchte ihn dort einmal, aber die großartigen Etonianer, die da in der Wohnung seines Bruders ein und aus gingen, verschüchterten und deprimierten ihn. Gervase war der Großkotz, der mit Geld um sich warf und sich eine schöne Zeit machte. Er gab eine Party in seiner Wohnung, aber Tom saß stumm dabei, [200] betrank sich, um seine Verlegenheit zu überspielen, und musste sich später auf dem Peckwater-Hof heftig übergeben. Am Tag darauf kehrte er zutiefst bedrückt nach Tomb zurück.
    »Tom ist ja nicht unbedingt ein Gelehrtentyp«, sagte Mrs. Kent-Cumberland zu ihren Freundinnen. »Natürlich bin ich froh, dass er es nicht ist. Andernfalls wäre es vielleicht nur recht und billig gewesen, das Opfer zu bringen und ihn auf die Universität zu schicken. Aber wie die Dinge liegen, ist es umso besser, je eher er auf seinen Weg gebracht wird.«
    VII
    Das aber – Tom »auf den Weg« zu bringen – erwies sich als eine schwierige Angelegenheit. Während der Erbschaftssteuerepoche hatte Mrs. Kent-Cumberland sich von vielen ihrer Freunde ferngehalten; jetzt warf sie vergebens die Angel nach jemandem aus, der Tom irgendwo hätte »unterbringen« können. Es wurde Wirtschaftsprüfung erwogen, Steuerberatung, Immobilienvermittlung, »die City«, doch alles wurde wieder verworfen. »Dummerweise hat er gar keine speziellen Fähigkeiten«, erklärte sie. »Er ist vielseitig – [201] einer von denen, die überall ihren Mann

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