Waugh, Evelyn
Geschichte seiner Familie zeigte. Sie war bereits ein wenig besorgt gewesen, den Jungen womöglich zum Sozialisten gemacht zu haben, indem sie ihn auf eine »traditionslose« Schule geschickt hatte. Und als sich kurz vor Weihnachten eine Arbeitsstelle für Tom auftat, [205] nahm sie die Notizen in ihre Obhut. »Gervase wird sich gewiss sehr dafür interessieren«, sagte sie. »Vielleicht findet er es sogar lohnenswert, sie einem Verleger zu zeigen.«
VIII
Die Arbeit, die sich für Tom aufgetan hatte, war nicht von Anfang an lukrativ zu nennen, aber, wie seine Mutter sagte, es war immerhin ein Anfang. Er sollte in Wolverhampton die Autobranche von der Pike auf kennenlernen. Die ersten beiden Jahre sollte er in der Fabrik arbeiten, von wo er bei entsprechendem Talent in den Verkaufsraum eines Londoner Automobilsalons aufsteigen würde. Anfangs bekam er fünfunddreißig Shilling die Woche, aufgebessert durch ein Taschengeld von einem Pfund. Man fand ein Zimmer für ihn über einem Obst- und Gemüseladen am Stadtrand, und Gervase schenkte ihm seinen alten Zweisitzer, mit dem er zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin- und herfahren und am Wochenende gelegentlich nach Hause kommen konnte.
Bei einem dieser Besuche daheim erfuhr er dann von Gervase, dass ein Londoner Verleger [206] das Tagebuch gelesen habe und Chancen dafür sähe. Sechs Monate später erschien es unter dem Titel: Journal eines englischen Kavallerieoffiziers im Peninsularkrieg. Herausgegeben und mit Anmerkungen sowie einer biographischen Einführung versehen von Gervase Kent-Cumberland. Das Miniaturporträt des Soldaten zierte das Büchlein als Titelbild, und im Inneren fanden sich eine Collotypie des Originalmanuskripts, ein zeitgenössischer Stich von Tomb Park und eine Karte der Schlacht. Fast zweitausend Exemplare zu zwölfeinhalb Shilling wurden verkauft und es wurde in der einen und anderen Samstags- oder Sonntagszeitung anerkennend erwähnt.
Die Veröffentlichung des Tagebuchs fiel fast auf den Tag mit Gervases einundzwanzigstem Geburtstag zusammen. Das Ereignis wurde mit einem langen, rauschenden Fest begangen, das in einem Ball gipfelte, bei dem auch Toms Gegenwart gewünscht wurde.
Er fuhr nach der Arbeit nach Tomb, kam gerade zum Abendessen zurecht und fand das Haus gefüllt mit etwa dreißig Festgästen und im Übrigen völlig verwandelt.
Sein Zimmer war belegt (»denn du bleibst ja doch nur für eine Nacht«, erklärte seine Mutter). [207] Er wurde ins Cumberland Arms geschickt, wo er sich bei Kerzenlicht in einem winzigen Zimmerchen über der Bar umzog, um dann zu spät und ein wenig außer Atem zum Essen zu erscheinen, bei dem er zwischen zwei hübschen Mädchen saß, die weder wussten, wer er war, noch es der Mühe wert fanden, danach zu fragen. Der anschließende Tanz fand in einem Zelt auf der Terrasse statt, das ein Londoner Partydienst zur halbwegs gelungenen Kopie eines Pont-Street-Salons gemacht hatte. Tom tanzte ein paarmal mit Töchtern von Nachbarsfamilien, die er von klein auf kannte. Sie fragten ihn nach Wolverhampton und seiner Arbeit aus. Er musste andernmorgens früh aufstehen; um Mitternacht verzog er sich in sein Herbergsbett. Der Abend hatte ihn gelangweilt, denn er war verliebt.
IX
Er hatte daran gedacht, seine Mutter zu fragen, ob er seine Verlobte zum Ball mitbringen dürfe, aber nach nochmaligem Nachdenken hatte er bei aller Liebesblindheit eingesehen, dass es nicht ging. Das Mädchen hieß Gladys Cruttwell. Sie war zwei Jahre älter als er und hatte flaumiges [208] strohblondes Haar, das sie einmal wöchentlich zu Hause wusch und vor dem Gasofen trocknete; am Tag nach der Kopfwäsche war es sehr hell und seidig; gegen Ende der Woche etwas dunkler und ein wenig fettig. Sie war tugendhaft, zärtlich, selbstbewusst, ruhig, unintelligent und couragiert, aber Tom kam nicht um die Einsicht herum, dass sie auf Tomb nicht gut ankommen würde.
Sie arbeitete im Büro der Firma. Tom hatte sie an seinem zweiten Tag dort über den Hof tänzeln sehen, pünktlich wie die Uhr, barhäuptig (am Tag nach der Kopfwäsche), in einem selbstgestrickten wollenen Kostüm. Er kam in der Kantine mit ihr ins Gespräch, indem er ihr mit einer angesichts der Örtlichkeit nicht ganz selbstverständlichen Ritterlichkeit den Vortritt ließ. Dass er ein Auto besaß, brachte ihn gegenüber den anderen jungen Männern in der Fabrik eindeutig in Vorteil.
Sie stellten fest, dass sie nur ein paar Straßen weit voneinander entfernt wohnten, und bald
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