Waugh, Evelyn
stehen können –, aber er hat natürlich kein Kapital.«
August, September und Oktober vergingen; Gervase war wieder in Oxford und bewohnte eine schicke Wohnung in der High Street, wohingegen Tom weiter ohne Beschäftigung zu Hause blieb. Tag für Tag setzten er und seine Mutter sich zum Mittag- und Abendessen hin, und seine dauernde Gegenwart stellte Mrs. Kent-Cumberlands Geduld auf eine harte Probe. Sie selbst war unablässig beschäftigt, und während sie emsig ihren Pflichten nachging, schockierte und ärgerte es sie jedes Mal, wenn sie die kräftige Gestalt ihres Sohnes im Damenzimmer auf dem Sofa liegen oder an der steinernen Terrassenbrüstung lehnen und apathisch über die wohlvertraute Landschaft starren sah.
»Kannst du dir nicht irgendeine Beschäftigung suchen?«, klagte sie oft. »In und an einem Haus gibt es doch immer was zu tun. Ich habe weiß Gott nie einen Augenblick Ruhe.« Und als er eines Nachmittags von Nachbarn eingeladen war und zu spät zurückkam, um sich noch zum Abendessen umzuziehen, sagte sie: »Also wirklich, Tom, man sollte meinen, du hättest die Zeit dafür.«
[202] »Es ist eine sehr ernste Sache«, bemerkte sie bei anderer Gelegenheit, »wenn ein junger Mann in deinem Alter nicht an Arbeit gewöhnt ist. Es untergräbt seine Moral.«
Und so verfiel sie schließlich auf das seit Jahrhunderten beim Landadel bewährte Hausrezept, ihn die Bibliothek katalogisieren zu lassen. Diese bestand aus einer umfangreichen verstaubten Büchersammlung, zusammengetragen von Generationen einer Familie, in der sich noch nie einer als großer Mäzen der Literatur hervorgetan hatte; die Bibliothek war schon einmal um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der spinnwebartigen altjüngferlichen Handschrift eines armen Verwandten katalogisiert worden; seitdem war nichts Nennenswertes hinzugekommen; dennoch kaufte Mrs. Kent-Cumberland eine Vitrine aus dunklem Eichenholz und ein paar Karteikästchen und erklärte Tom, nach welchem System sie die Regale umnummeriert und die Bücher je zweimal unter Autor und Thema erfasst haben wollte.
Es war ein System, mit dem ein junger Mann eine Weile zu tun haben sollte, und so ärgerte es sie, als sie ihn schon ein paar Tage später bei einem Überraschungsbesuch an seinem Arbeitsplatz lesend in einem Sessel sitzen sah oder vielmehr, [203] mit den Füßen auf einer Sprosse des Bibliothekstritts, halb liegen.
»Freut mich, dass du etwas Interessantes gefunden hast«, sagte sie in einem Ton, der wenig Freude ausdrückte.
»Also, ehrlich gesagt, habe ich das wohl«, sagte Tom und zeigte ihr das Buch.
Es war ein handgeschriebenes Tagebuch, das ein Colonel Jasper Cumberland während des Peninsularkriegs geführt hatte. Es besaß keine ungeahnten literarischen Vorzüge, und die Kritik am Generalstab warf auch kein neues Licht auf die Strategie dieses Feldzugs, aber es war eine lebendige, hautnahe Schilderung jener Tage und atmete den Hauch seiner Zeit; eingestreut waren ein paar lustige Anekdötchen, spannende Geschichten von Fuchsjagden hinter den Linien von Torres Vedras, ein Besuch des Herzogs von Wellington in der Offiziersmesse, eine drohende Meuterei, die noch nicht in die Geschichtsschreibung eingegangen war, der Sturm auf Badajoz; gewürzt mit ein paar anzüglichen Bemerkungen über portugiesische Frauen und frommen Gedanken zum Patriotismus.
»Ich habe überlegt, ob das nicht eine Veröffentlichung wert wäre«, meinte Tom.
»Das glaube ich kaum«, antwortete seine [204] Mutter. »Aber ich zeige es auf alle Fälle Gervase, wenn er wieder hier ist.«
Für den Augenblick brachte der Fund ein wenig Abwechslung in Toms Leben. Er befasste sich mit der Geschichte jener Epoche sowie der seiner Familie. Jasper Cumberland identifizierte er als einen »jüngeren Sohn« von damals, der später nach Kanada ausgewandert war. In den Archiven fanden sich Briefe von ihm, darunter die Nachricht von seiner Verehelichung mit einer Papistin, die offenbar das Verhältnis zu seinem älteren Bruder zerstört hatte. Im Salon fand er in einem Kästchen mit unkatalogisierten Miniaturen das Porträt eines gutaussehenden backenbärtigen Soldaten, den er nach Beschäftigung mit historischen Uniformen als den Tagebuchschreiber erkannte.
Und bald schon war Tom dabei, seine Notizen in runder kindlicher Handschrift zu einem Essay zusammenzufassen. Seine Mutter sah es mit vorbehaltlosem Wohlwollen. Es freute sie, ihn beschäftigt zu sehen, und es freute sie, dass er Interesse an der
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