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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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oft das Bedürfnis, das Licht anzumachen, befürchtete aber, sie wach und an die Decke starrend vorzufinden. Stattdessen lag er da wie andere, wenn sie im Nachgenuss der Liebe schwelgen, und hasste sie.
    Es kam ihm nicht in den Sinn, sie zu verlassen, beziehungsweise es kam ihm von Zeit zu Zeit in den Sinn, aber er wies den Gedanken hoffnungslos von sich. Ihr Leben war fest an seines gebunden; [339] ihre Familie war seine Familie; ihrer beider Finanzen waren unlösbar verquickt, und ihre Erwartungen gingen in dieselbe Richtung. Sie zu verlassen hätte bedeutet, in einer fremden Welt allein und nackt neu zu beginnen; und John Verney, mit achtunddreißig lahm und müde, hatte nicht den Mut, etwas zu unternehmen.
    Er liebte keine andere. Er hatte nichts zu tun, nirgends eine Zuflucht. Außerdem hatte er seit kurzem den Verdacht, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn er ginge. Und vor allem war er von nichts anderem mehr beseelt als dem hartnäckigen Wunsch, ihr Böses zu tun. »Ich wünschte, sie wäre tot«, sagte er sich, wenn er nachts wach lag. »Ich wünschte, sie wäre tot.«
    Manchmal gingen sie zusammen aus. Gegen Ende des Winters gewöhnte John sich an, ein- oder zweimal die Woche in seinem Club zu speisen. Er nahm an, dass sie in diesen Fällen zu Hause blieb, eines Morgens aber kam heraus, dass auch sie am Abend zuvor ausgegangen war. Er fragte sie nicht, mit wem, doch seine Tante tat es, und Elizabeth antwortete: »Bloß mit jemand aus dem Büro.«
    »Mit dem Juden?«, fragte John.
    »Zufällig ja.«
    »Ich hoffe, du hast es genossen.«
    [340] »Durchaus. Das Essen war natürlich scheußlich, aber er ist sehr amüsant.«
    Eines Abends, als er nach einem trostlosen kleinen Nachtmahl und zwei Fahrten mit der überfüllten U -Bahn von seinem Club heimkehrte, fand er Elizabeth im Bett und tief schlafend vor. Sie rührte sich nicht, als er eintrat. Gegen ihre Gewohnheit schnarchte sie. Er stand eine Weile da, fasziniert von diesem unschönen neuen Anblick, den sie bot, der Kopf zurückgeworfen, der Mund offen, so dass seitlich etwas Speichel herauslief. Dann schüttelte er sie. Sie murmelte etwas, wälzte sich herum und schlief fest und geräuschlos weiter.
    Eine halbe Stunde später, als er gerade um die innere Ruhe zum Einschlafen rang, begann sie abermals zu schnarchen. Er schaltete das Licht an, betrachtete sie genauer und bemerkte mit Erstaunen, das sich schlagartig in freudige Hoffnung verwandelte, auf dem Nachttisch neben ihr ein Röhrchen mit unbekannten Tabletten, halb leer.
    Er sah es sich näher an. »24 Comprimés narcotiques, hypnotiques«, las er und dann in großen roten Lettern: »NE PAS DEPASSER DEUX.« Er zählte, wie viele noch übrig waren. Elf.
    Mit zitternden Schmetterlingsflügeln begann [341] die Hoffnung, in seinem Herzen zu flattern, wurde Gewissheit. Er fühlte, wie in ihm ein Feuer entflammte und sich ausbreitete, bis es ihn in sämtlichen Gliedern und Organen wohlig warm durchströmte. Auf dem Rücken liegend, lauschte er dem Schnarchen mit der gespannten Erregung eines kleinen Jungen am Weihnachtsabend. »Ich werde morgen aufwachen, und sie wird tot sein«, sagte er sich, wie er einst den schlaffen Strumpf am Fußende seines Bettes betastet und sich gesagt hatte: »Morgen werde ich aufwachen, und er wird voll sein.« Wie ein kleiner Junge wollte er unbedingt einschlafen, damit es schneller Morgen wurde, und wie ein kleiner Junge fand er vor wilder Vorfreude keinen Schlaf. Irgendwann schluckte er selbst zwei der Tabletten und verlor fast augenblicklich das Bewusstsein.
    Elizabeth stand stets als Erste auf, um für die Familie Frühstück zu machen. Sie war gerade an der Frisierkommode, als völlig abrupt, ohne jede Bettschwere und mit stereoskopisch klarer Erinnerung an das Geschehen am Abend zuvor, John erwachte. »Du hast geschnarcht«, sagte sie.
    Die Enttäuschung war so heftig, dass er zunächst keinen Ton herausbrachte. Dann sagte er: »Du hast auch geschnarcht in der Nacht.«
    »Das muss die Schlaftablette sein, die ich [342] genommen habe. Ich muss sagen, sie hat mir eine gute Nacht beschert.«
    »Nur eine Tablette?«
    »Ja, man darf höchstens zwei nehmen.«
    »Wo hast du sie her?«
    »Von einem Freund im Büro – du nennst ihn den Juden. Er hat sie von einem Arzt verschrieben bekommen, für wenn er zu viel arbeitet. Ich habe ihm erzählt, dass ich nicht einschlafen kann, und da hat er mir ein halbes Röhrchen gegeben.«
    »Könnte er mir auch welche besorgen?«
    »Ich

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