Waugh, Evelyn
hasserfüllt ohne ein Wort. Dann griff er nach dem Formular. »Das heißt, dies hier ist nicht mehr gültig?«
»Nein.«
»Um Staates willen«, sagte Dr. Beamish sehr [384] erbost, »warum stehlen Sie dann meine Zeit? Ich habe über hundert dringende Fälle draußen warten, und Sie kommen hier rein, um mir mitzuteilen, dass der Theaterdirektor ein Schatz ist. Ich kenne den Theaterdirektor. Wir leben Tür an Tür im selben grässlichen Wohnheim. Er ist eine Nervensäge. Und über dieses Affentheater werde ich so einen geharnischten Bericht an das Ministerium schreiben, dass er und der Irre, der sich einbildet, er könnte einen Klugmann vornehmen, hier ankriechen und um ihre Auslöschung betteln werden. Und dann werde ich sie ans Ende der Schlange stellen. Schaffen Sie sie raus, Plastic, und lassen Sie vernünftige Leute ein.«
Miles führte sie ins öffentliche Wartezimmer. »Was für ein altes Scheusal«, sagte sie. »Was für ein elendes altes Scheusal. So hat noch nie jemand mit mir geredet, nicht einmal in der Ballettschule. Anfangs hat er so nett gewirkt.«
»Da ist das Berufsethos mit ihm durchgegangen«, sagte Miles. »Er war natürlich verärgert, so eine attraktive Patientin zu verlieren.«
Sie lächelte. Ihr Bart war nicht so dicht, dass er das feine Oval von Wange und Kinn ganz verdeckt hätte. Es sah aus, als schaute sie ihn über reife Gerstenähren hinweg an.
Das Lächeln ging von ihren großen grauen [385] Augen aus. Die Lippen unter ihrem goldblonden Schnurrbart waren ungeschminkt, verlockend. Eine helle Haarlinie spross darunter über die Kinnmitte, verbreiterte sich von dort aus und wurde voller und farblich satter, bis sie sich mit den rauschenden Koteletten verband, dabei aber auf beiden Seiten klar und zart zwei symmetrische Zonen freiließ, nackt und aufreizend. So mochte im fünften Jahrhundert ein heiterer Diakon in den Kolonnadengängen der Alexandrinischen Schule gelächelt und die Häresiarchen um den Verstand gebracht haben.
»Ich finde Ihren Bart wunderschön.«
»Wirklich? Ehrlich gesagt, gefällt er mir auch. Ehrlich gesagt, gefällt mir alles an mir, Ihnen nicht auch?«
»Doch. O doch.«
»Das ist nicht natürlich.«
Lärm an der Außentür unterbrach das Gespräch. Wie Möwen, die einen Leuchtturm umschwirren, versetzten die ungeduldigen Patienten dem Türblatt unregelmäßige Stöße und Schläge.
»Wir sind bereit, Plastic«, sagte ein höherer Beamter. »Was ist denn heute Morgen los?«
Was war los? Miles wusste keine Antwort. Wildgewordene Seevögel schienen sich gegen das Licht in seinem Herzen zu werfen.
[386] »Gehen Sie nicht«, sagte er zu dem Mädchen. »Bitte, ich bin gleich wieder da.«
»Ach, ich habe sowieso nichts vor. Meine Abteilung denkt, ich wäre inzwischen so gut wie tot.«
Miles machte die Tür auf und ließ ein ungehaltenes halbes Dutzend ein. Er wies den Leuten ihre Plätze, die Abmeldestelle. Dann ging er zu dem Mädchen zurück. Sie hatte sich ein wenig von der Menge weggedreht und sich nach Bauernart einen Schal um den Kopf gezogen hatte, damit man ihren Bart nicht sah.
»Es ist mir immer noch ein wenig unangenehm, angestarrt zu werden«, sagte sie.
»Unsere Patienten sind viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um jemand anders wahrzunehmen«, sagte Miles. »Außerdem wären Sie doch reichlich angestarrt worden, wenn Sie beim Ballett geblieben wären.«
Miles rückte den Fernseher zurecht, doch nur wenige Augen im Wartezimmer schauten hin; alle waren wie gebannt auf den Tisch des Abmeldebeamten und die Tür dahinter gerichtet.
»Dass die alle hierherkommen«, sagte das bärtige Mädchen.
»Wir betreuen sie, so gut wir nur können«, sagte Miles.
»Ja, natürlich, das weiß ich. Glauben Sie bitte [387] nicht, ich wollte herummäkeln. Ich wollte nur sagen, komisch, sterben zu wollen.«
»Der eine oder andere hat gute Gründe.«
»Sie würden vermutlich sagen, die hätte ich auch. Seit meiner Operation versuchen alle, mich dazu zu überreden. Die Gesundheitsbeamten waren die Schlimmsten. Sie haben Angst, sie könnten für ihre Fehler zur Rechenschaft gezogen werden. Und die Ballettleute waren fast genauso schlimm. Sie sind dermaßen kunstvernarrt, dass sie sagen: ›Du warst die Beste in deiner Klasse. Du kannst nie wieder tanzen. Wie soll da das Leben noch lebenswert sein?‹ Aber, versuche ich dann zu erklären, gerade weil ich tanzen konnte, weiß ich, dass das Leben lebenswert ist. Das ist es, was die Kunst mir
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