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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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gibt. Hört sich das sehr albern an?«
    »Es hört sich unorthodox an.«
    »Ah, Sie sind eben kein Künstler.«
    »Oh, ich habe früher auch getanzt. In meiner Zeit im Waisenhaus immer zweimal die Woche.«
    »Therapeutischer Tanz?«
    »Ja, so hieß das.«
    »Aber das, nicht wahr, ist etwas ganz anderes als Kunst.«
    »Warum?«
    »Ach«, sagte sie mit plötzlicher Innigkeit, mit [388] Zuneigung. »Ach, wie viel Sie doch nicht wissen.« Die Tänzerin hieß Clara.
    III
    Das Liebesleben in dieser Zeit war frei und ungezwungen, aber Miles war Claras erste Liebe. Die körperlichen Strapazen ihrer Ausbildung, die harten Anforderungen des Corps de Ballet und ihre Hingabe an ihre Kunst hatten dafür gesorgt, dass sie an Leib und Seele unberührt geblieben war.
    Für Miles als Kind des Staates hatte die Sexualerziehung auf jeder Stufe seiner Ausbildung zum Lehrplan gehört: erst mit Hilfe von Schaubildern, dann von Demonstrationen, dann in der praktischen Anwendung hatte er sich alle Finessen des Fortpflanzungsvorgangs angeeignet. Liebe war ein Wort, das höchstens einmal Politiker gebrauchten, und auch sie nur in ihren kindischsten Anwandlungen. Nichts, was ihm beigebracht worden war, hatte ihn auf Clara vorbereitet.
    Einmal Theater, immer Theater. Clara brachte nun ihre Tage damit zu, Ballettschuhe zu stopfen und Anfängerinnen an der Sprossenwand zu unterweisen. Sie hatte eine Kabine in einer Wellblechbaracke, und dort verbrachten sie und Miles [389] meistens die Abende zusammen. Das Stübchen unterschied sich sehr von den Behausungen aller übrigen Bewohner von Satellite City.
    Die zwei kleinen Gemälde, die an den Wänden hingen, waren anders als alle Gemälde, die Miles je zuvor gesehen hatte, anders als alles, was vom Ministerium für Kunst gutgeheißen wurde. Eines stellte eine Göttin des klassischen Altertums dar, nackt und rosig, die auf einer blühenden Uferböschung einen Pfau herzte, das andere einen großen, von Bäumen gesäumten See und eine Gesellschaft in wallenden Seidengewändern, die unter einem verfallenen Bogen ein Ausflugsboot bestieg. Die vergoldeten Rahmen waren stark abgestoßen, aber an den heilen Stellen kunstvoll mit Blätterwerk verziert.
    »Sie sind aus Frankreich«, sagte Clara. »Über zweihundert Jahre alt. Meine Mutter hat sie mir hinterlassen.«
    Ihre gesamten Habseligkeiten stammten von ihrer Mutter und reichten fast aus, um die kleine Stube zu füllen – ein von Porzellanblumen eingerahmter Spiegel, eine falschgehende goldene Uhr. Sie und Miles tranken ihre schale amtliche Kaffeemischung aus glänzenden Zierkelchen.
    »Das erinnert mich ans Gefängnis«, sagte Miles, als er zum ersten Mal hineingebeten wurde.
    [390] Es war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte.
    Am ersten Abend inmitten dieses ganzen antiken Krimskrams fanden seine Lippen die unbehaarten Flächen ihrer Wangen.
    »Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen wäre, mich von diesem scheußlichen Doktor vergiften zu lassen«, sagte Clara höchst zufrieden.
    Der Hochsommer kam. Ein neuer Mond schwoll über diesem kuriosen Liebespaar an. Einmal suchten sie zwischen den hohen Wiesenkerbel- und Weidenröschenstengeln der leeren Baugrundstücke Kühle und Heimlichkeit. Im mitternächtlichen Mondenschein schimmerte Claras Bart silbrig wie der eines Patriarchen.
    »In einer Nacht wie dieser«, sagte Miles, während er auf dem Rücken lag und das Antlitz des Mondes betrachtete, »in einer Nacht wie dieser habe ich einmal einen Luftwaffenstützpunkt und seine halbe Besatzung niedergebrannt.«
    Clara setzte sich auf und begann, gemächlich ihre Koteletten zu strählen, führte dann den Kamm energischer durch das dichtere verstrubbelte Haupthaar und strich es sich aus der Stirn, zupfte die Kleidung zurecht, die durch das Liebesspiel in Unordnung geraten war. Sie war von fraulicher Zufriedenheit erfüllt und bereit, nach [391] Hause zu gehen. Miles jedoch, als Mann post coitum tristis, bedrückte ein eisiges Verlustgefühl. Keine Demonstration oder praktische Übung hatte ihn auf diese fremdartige neue Erfahrung vorbereitet: die jähe Einsamkeit, die der belohnten Liebe folgt.
    Auf dem Heimweg wechselten sie beiläufige und recht verdrießliche Worte.
    »Du gehst gar nicht mehr ins Ballett.«
    »Nein.«
    »Kriegst du keine Plätze?«
    »Würde ich schon, glaube ich.«
    »Warum gehst du dann nicht?«
    »Ich glaube, es würde mir nicht gefallen. Ich sehe häufig bei den Proben zu. Es gefällt mir nicht.«
    »Aber früher hast du dafür

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