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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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gelebt.«
    »Hab jetzt andere Interessen.«
    »Mich?«
    »Natürlich.«
    »Du liebst mich mehr als das Ballett?«
    »Ich bin sehr glücklich.«
    »Glücklicher, als wenn du tanzen würdest?«
    »Wie soll ich das wissen? Du bist jetzt alles, was ich habe.«
    »Aber wenn du dein Aussehen ändern könntest?«
    [392] »Kann ich nicht.«
    »Wenn!«
    »Es gibt kein ›Wenn‹.«
    »Verdammt.«
    »Reg dich nicht auf, Liebling. Es ist nur der Mond.«
    Und sie trennten sich schweigend.
    Der November kam und mit ihm die üblichen Streiks; eine Mußezeit für Miles, ungewollt und ungeliebt; einsame Phasen, in denen die Ballettschule weiterlief und das Todeshaus kalt und leer blieb.
    Clara begann, über ihre Gesundheit zu klagen. Sie wurde füllig.
    »Nur aus Wohlbehagen«, sagte sie anfangs, doch die Veränderung machte ihr Sorgen. »Kann es an dieser scheußlichen Operation liegen?«, fragte sie. »Ich habe gehört, eines der Mädchen in Cambridge hätten sie deswegen eingeschläfert, weil sie immer dicker wurde.«
    »Sie hat hundertzwanzig Kilo gewogen«, sagte Miles. »Ich weiß das, weil Dr. Beamish es mal erwähnt hat. Er hat schwerwiegende fachliche Einwände gegen die Klugmann’sche Operation.«
    »Ich werde mal zum Gesundheitsdirektor gehen. Es gibt inzwischen einen neuen.«
    Als sie von ihrem Termin zurückkehrte, wartete [393] Miles, weiterhin unbeschäftigt wegen des Streiks, inmitten ihrer Bilder und Porzellansachen auf sie. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett.
    »Lass uns was trinken«, sagte sie.
    Sie tranken gern zusammen Wein, auch wenn sie es sich nur sehr selten leisten konnten. Der Staat bestimmte und benannte die Sorte. In diesem Monat wurde Portwein Marke »Fortschritt« ausgegeben. Clara bewahrte ihn in einer handgeschliffenen böhmischen Rubinglaskaraffe auf. Die Gläser waren modern, unzerbrechlich und unansehnlich.
    »Was hat der Arzt gesagt?«
    »Er ist sehr nett.«
    »Und?«
    »Viel schlauer als der vorige.«
    »Hat er gesagt, es hätte mit deiner Operation zu tun?«
    »O ja. Damit hat es allerdings zu tun.«
    »Kann er etwas dagegen machen?«
    »Ja, er glaubt schon.«
    »Gut.«
    Sie tranken ihren Wein.
    »Dieser erste Arzt hat die Operation völlig verpfuscht, nicht wahr?«
    »Völlig. Der neue Arzt sagt, ich bin ein einmaliger Fall. Weißt du, ich bin schwanger.«
    [394] »Clara.«
    »Ja, das ist eine Überraschung, nicht wahr?«
    »Das will bedacht sein«, sagte Miles.
    Er bedachte es.
    Er füllte die Gläser nach.
    Er sagte: »Pech für das arme Würmchen, dass es nicht als Waise geboren wird. So hat es keine großen Chancen. Wenn es ein Junge wird, müssen wir versuchen, ihn als Arbeiter registrieren zu lassen. Natürlich wird es vielleicht auch ein Mädchen. Dann«, strahlend, »könnte sie Tänzerin werden.«
    »Ach, sprich nicht vom Tanzen!«, rief Clara und fing plötzlich zu weinen an. »Sprich mir ja nicht vom Tanzen!«
    Ihre Tränen flossen in Strömen. Nicht aus Zorn, sondern aus tiefem unbezähmbaren, untröstlichen Herzeleid.
    Und am nächsten Tag verschwand sie.
    IV
    Die Weihnachtsmannzeit nahte. Die Geschäfte waren voll von kitschigen Püppchen. In der Schule sangen die Kinder alte Lieder von Frieden und Wohlgefallen. Die Streikenden kehrten an die [395] Arbeit zurück, um ihren Anspruch auf Weihnachtsmanngeld nicht zu verlieren. Glühbirnen wurden in die Nadelbäume gehängt, und die Öfen im Sicherheitsdom brummten wieder. Miles war befördert worden. Er saß jetzt neben dem Assistenten des Abmeldebeamten und half ihm, die Dokumente der Toten zu stempeln und abzulegen. Die Arbeit war anstrengender, als er es gewohnt war, und er lechzte nach Claras Gesellschaft. Im Dom und im Baum des Wohlgefallens auf dem Parkplatz erloschen die Lichter. Er ging die halbe Meile durch das Barackenlager zu Claras Unterkunft. Andere Mädchen warteten auf ihre Freunde oder zogen los, um sie im Rekreatorium zu treffen, aber Claras Tür war verschlossen. Auf einem daran gehefteten Zettel stand: Miles, bin ein Weilchen weg. C. Verärgert und ratlos begab er sich in sein Wohnheim zurück.
    Im Unterschied zu ihm hatte Clara im ganzen Land verstreut Onkel und Cousins wohnen. Seit ihrer Operation hatte sie sich nicht mehr getraut, sie zu besuchen. Jetzt suchte sie bei ihnen Unterschlupf, vermutete Miles. Es war die Art ihrer Flucht, die ihn quälte, sie wollte so gar nicht zu ihrem sanften Wesen passen. Eine arbeitsreiche Woche lang dachte er an nichts anderes. Seine Vorwürfe klangen ihm tagsüber als

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