Waylander der Graue
dich glaubten. Du wolltest großes Unheil verhindern. Ja, sie starben, um dich zu beschützen. Und sie taten es aus freien Stücken. Es liegt jetzt an dir, durch dein Überleben ihr Opfer sinnvoll zu machen, so wie sie es gewollt hätten. Hörst du mich?«
»Ich höre dich, Grauer Mann. Aber wir haben verloren. Das Tor wird sich öffnen, und das Böse von Kuan Hador wird zurückkehren.«
»Vielleicht auch nicht. Wir leben noch. Ich hatte schon viele Feinde, Ustarte, mächtige Feinde. Manche herrschten über Völker, andere befehligten Armeen, wieder andere beschworen Dämonen. Sie sind alle tot, und ich lebe noch. Und solange ich lebe, akzeptiere ich keine Niederlage.«
Sie schloss die Augen und versuchte, mit den Schmerzen zu strömen. Ustarte merkte, wie die Decke von ihr gezogen wurde. Der Graue Mann untersuchte ihre Wunden.
»Es heilt gut«, sagte er. »Warum wäre diese Verwandlung gefährlich für dich?«
»Ich werde größer. Die Nähte werden aufreißen. Falls das eintritt, musst du mich … töten. Ich werde dann nicht mehr Ustarte sein. Und was ich werde, wird dich in seiner Qual … umbringen. Hast du das verstanden?«
»Ja. Ruh dich jetzt aus.«
Für einen Menschen wäre der Rat vernünftig gewesen, doch Ustarte wusste, wenn sie nicht bei Bewusstsein blieb, würde das Wirbeln wieder einsetzen, und sie würde sich verwandeln. Sie lag ganz still. Ihre Gedanken begannen zu schweifen. Mehrmals drohte sie einzunicken. Sie sah wieder die Aufzuchtställe, fühlte wieder die entsetzliche Angst, die sie gekannt hatte. Das verkrüppelte Mädchen, das von zu Hause verschleppt wurde und zu den endlosen Schrecken der unterirdischen Käfige gebracht wurde. Scharfe Messer, die in ihr Fleisch schnitten, eklige Flüssigkeiten, die ihr in den Schlund gezwungen wurden. Jedes Mal, wenn sie sich übergab, wurde ihr mehr von der Flüssigkeit eingeflößt. Zauber wurden gesprochen, schärfer als Messer, heißer als Feuer, kälter als Eis.
Dann der schreckliche Tag, an dem ihr schwächlicher Körper mit dem Tier verschmolzen wurde. Seine Angst und seine Wut überschwemmten sie, während seine Moleküle in ihre Menschengestalt strömten. Der Schmerz war unbeschreiblich, jeder Muskel schwoll an und verkrampfte. Das Kind wurde in ein Meer von Schwärze hinabgezogen. Doch sie klammerte sich an ihre Individualität, trotz des brüllenden Tieres in ihrem Geist. Als es ihre Anwesenheit spürte, beruhigte sich das Tier.
Seltsame Träume folgten. Sie fühlte, wie sie auf allen vieren lief, wie ihre großen Glieder kraftvoll mit ungeheurer Schnelligkeit über die Ebene rannten. Dann sprang sie dem Hirsch auf den Rücken, ihre Zähne schlossen sich um seinen Hals, rissen ihn nieder. Warmes Blut füllte ihren Mund. Sie verlor beinahe ihr Selbst in dem Blut, doch sie klammerte sich an jenen winzigen Funken, der Ustarte war.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich der Summen bewusst wurde. »Dieser neue Kraloth passt sich nicht an, Herr. Er schläft zwanzig Stunden, und wenn erwach ist, wirkt er verwirrt. Wir haben ein Zittern in den Muskeln der Hinterbeine und gelegentliche Krämpfe bemerkt.«
»Töte ihn«, kam eine zweite Stimme, rau und kalt.
»Jawohl.«
Die Vorstellung zu sterben überflutete Ustarte mit einem Energieschub, und ihr Geist strömte aus den dunklen Kammern des tierischen Körpers. Sie fühlte wieder ihr Fleisch, die Kraft der Muskeln in ihren vier Gliedmaßen. Sie öffnete die Augen. Sie richtete sich auf und versuchte zu sprechen. Ein tiefes, kehliges Knurren entrang sich ihrer Kehle. Ihre Pfoten schlugen gegen die Eisenstäbe des Käfigs. Ein Mann in einer grünen Tunika stieß einen langen Stab durch das Gitter. Etwas Scharfes, Helles an seinem Ende stach in ihr Fleisch. Feuer flammte in ihren Flanken auf.
Instinktiv wusste sie, dass es sich um Gift handelte. Wie sie damit fertig geworden war, war ihr bis zum heutigen Tage ein Rätsel geblieben. Sie konnte nur vermuten, dass die Verschmelzung in ihr ein unvorhersehbares Talent geschaffen und ihr Lymphsystem so verstärkt hatte, dass sie das Gift hineinziehen, es dort in seine Bestandteile zerlegen und unschädlich machen konnte.
Sie ließ sich auf die Hinterbeine sinken und wartete lautlos, bis das Gift harmlos geworden war. Dann bemerkte sie die Gedanken der drei Männer im Raum. Einerwartete darauf, nach Hause zu seiner Familie gehen zu können. Der zweite dachte an eine Mahlzeit, die er verpasst hatte. Der dritte dachte an Mord.
Noch als sie
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