Waylander der Graue
diesen Gedanken empfing, spürte sie, wie der Mann seinen Geist vor ihr verschloss. Ein goldener Zauber schoss durch das Gitter und floss plötzlich wie glühende Peitschen über ihren Körper. Sie wand sich unter diesem neuen Schmerz.
Sie wollte ihm so verzweifelt entrinnen, dass sie tief in ihren tierischen Körper entfloh und dem Tier gestattete, die Kontrolle zu übernehmen. Es tobte in dem Käfig herum, schlug mit den großen Pfoten nach den Stäben und verbog sie. Doch der Schmerz wurde noch schlimmer. Ustarte versuchte erneut zu fliehen, drängte durch den Körper, als ob sie versuchte, sich ihren Weg aus dem gequälten Fleisch zu bahnen.
Und in diesem Augenblick fand sie den Schlüssel, der ihr das Leben retten sollte.
Das Tier zog sich zurück. Der Geist Ustartes schwoll an. Der Körper fiel auf den Käfigboden, wand sich und verwandelte sich.
Als sie erwachte, ruhte sie auf einem Bett. Ihr Körper war nicht mehr ganz der des Tieres, aber er war auch nicht ganz menschlich. Ihre Schultern und ihr Rumpf waren mit dichtem, gestreiftem Fell bedeckt, ihre Finger endeten in einziehbaren Krallen.
»Du bist mir ein Rätsel, Kind«, sagte eine Stimme. Sie wandte den Kopf und sah den dritten Mann neben dem Bett sitzen. Er sah wundervoll aus, mit goldenem Haar und sommerblauen Augen. Die Augen eines freundlichen Onkels, dachte sie. Doch er besaß keine Freundlichkeit. »Aber ich werde es schon lösen.«
Zwei Tage später hatte er sie zu einem von einer Palisade eingefassten Palastgefängnis gebracht, das hoch in den Bergen lag. Hier lebten noch andere Mutationen, Mensch-Tiere und Werwesen, die Ergebnisse fehlgeschlagener Experimente. Es gab eine Schlange mit dem Gesicht eines Kindes. Sie wurde in einem gewölbten Käfig aus dünnem Maschendraht gehalten und mit lebenden Ratten gefüttert. Das Wesen sprach nicht, doch des Nachts machte es Musik, hoch und klagend. Der Klang zerrte jede Nacht an Ustartes Seele in den fünf Jahren, die sie an diesem schrecklichen Ort gefangen war.
Unaussprechliche Dinge wurden mit ihrem Körper vorgenommen, und sie wurde ausgebildet, um zu töten und zu fressen. Zwei Jahre lang weigerte sie sich, einen Menschen zu töten. Zwei Jahre lang unterwarf Deresh Karany, der goldhaarige Zauberer, sie schrecklichen Schmerzen. Letzten Endes brach die Folter ihren Widerstand, und sie lernte zu gehorchen. Ihr erster Toter war eine junge Frau gewesen, der nächste ein kräftiger Mann mit nur einem Arm. Danach hatte sie gelernt, die Gesichter und Gestalten ihrer Opfer zu vergessen. Wieder und wieder hatte Deresh Karany sie gezwungen, sich zu verwandeln, und wenn sie erst tierische Gestalt hatte, ließ er sie auf irgendeinen unglücklichen Menschen los. Ihre langen Reißzähne und die schrecklichen Krallen zerfetzten das schwache Fleisch, rissen Gliedmaßen ab, sie leckte Blut auf und zermalmte splitternde Knochen.
Sie war ein guter Kraloth, gehorsam und vertrauenswürdig. Kein einziges Mal, gleich in welcher Gestalt, wandte sie sich gegen ihre Gefängniswärter. Nicht einmal mit einem Knurren. Sie gehorchte auf der Stelle. Und Tag für Tag wurden sie selbstzufriedener über sie. Sie glaubten, sie hätten sie besiegt. Sie konnte es in ihren Gedanken lesen. Niemals, seit jenem ersten Tag in der Stadt, hatte sie sie von ihren anderen Kräften wissen lassen. Sie achtete sorgfältig darauf, ihre Gabe nicht zu verraten. Ustarte wusste, dass Deresh Karany sie spürte. Einmal war er mit einem Dolch in der Hand auf sie zugegangen. Seine Gedanken waren klar: »Ich werde dir dieses Messer in die Kehle rammen.«
»Guten Morgen, Herr«, sagte sie.
»Guten Morgen, Ustarte.« Er setzte sich neben sie. »Ich bin sehr zufrieden mit dir.«
»Ich werde dich töten!«
»Danke, Herr. Was soll ich für dich tun?«
Er lächelte und steckte den Dolch ein. »Die Wesen hier sind einzigartig, eine Zwillingsgestalt ist so selten. Wie fühlt es sich an, wenn du von einer Gestalt in die andere wechselst?«
»Es ist schmerzhaft, Herr.«
»Welche Gestalt verleiht dir die meiste Freude?«
»Keine macht mir Freude, Herr. In dieser, meiner halbmenschlichen Gestalt, ziehe ich einige Befriedigung aus meinen Studien, aus der Schönheit des Himmels. In Kraloth-Gestalt genieße ich die Kraft und die Macht und den Geschmack von Fleisch.«
»Ja«, sagte er und nickte, »das Tier hat keine Vorstellung von abstrakten Dingen. Wie beherrschst du es?«
»Ich kann es nicht völlig beherrschen, Herr. Es ist wild und unbändig. Es
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