Waylander der Graue
geh ein Stück mit mir.«
Niallad stand ganz still, und auf seinem Gesicht zeichnete sich Angst ab.
»Ich will dir nichts zuleide tun, Niallad. Wir müssen miteinander reden.« Waylander führte den Jungen zu ein paar Steinblöcken an einem rasch dahinfließenden Bach, und dort setzten sie sich in den Schein der hinter den Bergen allmählich untergehenden Sonne. »Das Böse schleicht sich an«, sagte Waylander. »Ein Mensch begibt sich auf eine Mission, die er für gerecht hält, und mit jedem Toten verdunkelt er seine Seele ein bisschen mehr. Er lebt weder am Tag noch in der Nacht. Und eines Tages tritt dieser Mann des Zwielichts, dieser … Graue Mann … endgültig ins Dunkel. Als junger Mann versuchte ich, anständig zu leben. Dann kam ich eines Tages nach Hause und fand meine Familie ermordet. Meine Frau Tanya, mein Sohn, meine beiden kleinen Mädchen. Ich begab mich auf die Jagd nach den neunzehn Männern, die bei dem Überfall dabei gewesen waren. Es kostete mich fast zwanzig Jahre, bis ich sie alle gefunden hatte. Ich tötete jeden einzelnen. Ich ließ sie leiden, wie Tanya gelitten hatte. Sie alle starben unter schrecklichen Schmerzen. Ich sah zurück auf den Folterknecht, der ich geworden war, und ich erkannte mich kaum noch in diesem Mann. Sein Herz war aus Stein. Er wandte fast allen Dingen von Wert den Rücken zu. Ich kann dir nicht sagen, warum er – ich – den Vertrag einging, den König zu töten. Es spielt auch keine Rolle mehr. Die schlichte Tatsache ist, dass ich annahm und dass ich ihn tötete. Und indem ich ihn tötete, wurde ich schließlich so böse wie die Männer, die meine Familie ermordeten.
Ich erzähle dir das alles nicht, um mich zu rechtfertigen oder um Verzeihung zu erbitten. Es ist nicht an dir, Vergebung zu gewähren. Ich sage es dir einfach, weil es dir vielleicht in deinem eigenen Leben helfen kann. Du hast Angst davor, schwach zu sein. Ich sehe diese Angst in dir. Doch du bist nicht schwach, Niallad. Einer der Männer, die deine Eltern ermordeten, war in deinen Händen, und du hieltest den Ehrenkodex aufrecht. Das ist Stärke einer Art, die ich nie besessen habe. Halt daran fest, Niallad. Halt dich ans Licht. Behalte den Kodex in deinem Herzen bei jeder Entscheidung, die du triffst. Und wenn du eines Tages einem Rivalen oder einem Feind gegenüberstehst, pass auf, dass du nichts tust, was dir Schande machen würde.«
Mit diesen Worten stand Waylander auf, und die beiden gingen zurück zu den Pferden. Waylander nahm seine Armbrust und lud sie. Er rief die vier Gefangenen zu sich. Sie schlurften unsicher vorwärts.
»Ihr seid frei zu gehen«, sagte er. »Wenn ich euch noch einmal sehe, töte ich euch. Und jetzt geht mir aus den Augen.«
Die vier Männer blieben einen Augenblick stehen, dann ging einer davon in den Wald. Die anderen warteten ab, um zu sehen, ob Waylander ihn erschießen würde. Als er es nicht tat, folgten sie ihm. Waylander ging zu Emrin. »Jetzt wird uns wohl niemand mehr verfolgen«, sagte er. »Ihre Pferde sind weit weg. Also nimm die Hochstraße und bringe Niallad und Keeva in die Hauptstadt. Wenn der Bursche stark genug ist, wird er über die anderen Adligen gewinnen und Herzog werden. Und ich möchte, dass du ihm zur Seite stehst.«
»Das werde ich. Wohin gehst du?«
»Wohin du mir nicht folgen kannst, Emrin.«
»Nein, aber ich kann es«, sagte Keeva.
Waylander wandte sich ihr zu. »Du hast mir gesagt, du wolltest kein Mörder werden. Das respektiere ich, Keeva Taliana. Wenn du jetzt mit mir gehst, wirst du diese Armbrust benutzen müssen.«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Diskussionen«, sagte Keeva grimmig. »Ich werde mit dir kommen und dir helfen, diesen Magier aufzuhalten. Nur für den Fall, dass du es – aus was für einem Grund auch immer – nicht tun kannst.«
»Dann soll es so sein«, sagte er. »Und jetzt müssen wir gehen. Wir haben noch einen sehr harten Ritt vor uns.«
»Ihr müsst nicht reiten«, sagte Ustarte. »Kommt, stellt euch neben mich, und ich werde euch hinbringen, wo immer ihr hinwollt.«
Waylander und Keeva stellten sich neben sie.
Niallad rief: »Was es auch wert sein mag, Grauer Mann, ich vergebe dir! Und ich danke dir für alles, was du für mich getan hast!«
Ustarte hob die Hände. Die Luft vor ihr begann zu flimmern. Dann war sie nicht mehr zu sehen, und Waylander und Keeva verschwanden mit ihr.
KAPITEL 16
In dem massiven Mittelschiff des Tempels drängten sich die Menschen: Mütter, die ihre Kinder
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