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Waylander der Graue

Waylander der Graue

Titel: Waylander der Graue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gemmell
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Aussehen. Sie wirkte fast zu zerbrechlich, um die Last der schweren rotgoldenen Seidengewänder zu tragen, die ihren Körper schmückten.
    »Was studierst du da, Verehrteste?«, fragte er. Sie sah auf. Ihre schrägstehenden Augen hatten nicht das tiefe Kastanienbraun der meisten Kiatze, sondern waren braungolden mit blauen Sprenkeln. Es waren verwirrende Augen, die tief in die Abgründe seiner Seele zu schauen schienen.
    »Ich habe das hier gelesen«, sagte sie. Ihre behandschuhte Hand berührte leicht eine antike Schriftrolle aus vertrocknetem und verblichenem Pergament. »Es ist, wie man mir sagte, eine Aufzeichnung in der fünften Generation der Aussprüche eines Schreibers namens Missael. Er war einer der außergewöhnlichsten Männer der Neuen Ordnung nach der Vernichtung der Älteren Rassen. Manche glauben, seine Verse enthielten Prophezeiungen für die Zukunft.« Sie lächelte. »Aber Worte sind so ungenau. Manche dieser Verse könnten alles Mögliche bedeuten.«
    »Warum studierst du sie dann?«
    »Warum studiert man überhaupt?«, entgegnete sie. »Für mehr Wissen und dadurch mehr Verständnis. Missael erzählt, wie die alte Welt durch Wollust, Gier, Furcht und Hass zerstört wurde. Hat die Menschheit aus dieser Zerstörung gelernt?«
    »Die Menschheit hat nicht nur ein einziges Paar Augen«, sagte Waylander. »Eine Million Augen sehen zu viel und nehmen zu wenig auf.«
    »Ah, du bist ein Philosoph.«
    »Höchstens ein bescheidener.« »Aus deinen Worten schließe ich, dass du glaubst, die Menschheit könne sich nicht zum Besseren verändern, sich nicht zu einer besseren Rasse entwickeln.«
    »Individuen können sich entwickeln und verändern. Das habe ich gesehen. Aber schare eine größere Gruppe zusammen, und nach kürzester Zeit kann sich daraus ein heulender Mob entwickeln, der nur Mord und Zerstörung im Sinn hat. Nein, ich glaube nicht, dass sich die Menschheit je verändert.«
    »Das mag stimmen«, gab sie zu, »aber das hinterlässt den Nachgeschmack von Niederlage und Verzweiflung. Eine solche Philosophie kann ich nicht gutheißen. Bitte, setz dich doch.«
    Er zog sich einen Stuhl heran, drehte ihn um und setzte sich ihr gegenüber.
    »Es gereicht dir zur Ehre, dass du das Mädchen Keeva gerettet hast«, sagte sie. Ihre Stimme war leise und melodisch.
    »Zuerst wusste ich nicht, dass sie eine Geisel genommen hatten«, gestand er.
    »Trotzdem. Jetzt hat sie ein Leben und ein Schicksal vor sich, dass ihr sonst genommen worden wäre. Wer weiß, was sie noch alles erreichen wird, Waylander.«
    »Den Namen benutze ich heute nicht mehr«, erklärte er, »und ich bin in Kydor auch nicht unter diesem Namen bekannt.«
    »Niemand wird ihn von mir hören«, sagte sie. »Also, sage mir, warum du hinter den Banditen hergeritten bist.«
    »Sie haben mein Land und meine Leute angegriffen. Brauche ich einen anderen Grund?«
    »Vielleicht musstest du dir beweisen, dass du immer noch der Mann bist, der du einst warst. Vielleicht empfandest du - unter dem harten, weltlichen Äußeren – den Schmerz und den Verlust der Dorfbewohner und warst entschlossen, dass diese bösen Männer nie wieder solches Unglück über andere bringen würden. Oder vielleicht dachtest du an deine erste Frau Tanya und dass du nicht da warst, als die Banditen kamen, um sie zu töten und deine Kinder zu ermorden.«
    Seine Stimme wurde hart. »Du hattest um eine Unterredung gebeten. Dein Bote sagte, es wäre wichtig.«
    Sie seufzte und sah ihm wieder in die Augen. Als sie sprach, war ihre Stimme sanfter, ihr Tonfall bedauernd. »Es bekümmert mich, dass ich dir wehgetan habe, Grauer Mann. Verzeih mir.«
    »Damit wir einander richtig verstehen«, sagte er kalt. »Ich versuche, meinen Kummer meine Privatsache sein zu lassen. Es gelingt mir nicht gänzlich. Du hast ein Fenster dorthin geöffnet. Es wäre höflich, es nicht noch einmal zu öffnen.«
    »Du hast mein Wort darauf.« Sie schwieg einen Augenblick, ihre goldenen Augen hielten seinen Blick fest. »Manchmal ist es schwierig für mich, Grauer Mann. Verstehst du, nichts bleibt mir verborgen. Wenn ich jemandem zum ersten Mal begegne, sehe ich alles. Sein Leben, seine Erinnerungen, seinen Zorn und seinen Kummer, alles liegt offen vor mir. Ich versuche, mich vor den unzähligen Bildern und Gefühlen zu verschließen, doch das ist schmerzhaft und anstrengend. Also nehme ich sie meistens auf. Deswegen meide ich größere Versammlungen, denn das ist, als würde man unter einer Lawine aus

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