Waylander der Graue
hatte damals andere Dinge im Kopf.«
»Natürlich. Sie hat deine Armbrust genommen. Der erste Schuss ging daneben, doch dann hat sie alle drei getroffen, die letzte im Flug.«
»Beeindruckend«, sagte er.
»Ich dachte, das würde dich interessieren.«
Er blieb in der Tür stehen. »Bist du bei deinen Studien irgendwo auf die Ruinen im Westen von hier gestoßen?«
»Warum fragst du?«
»Ich war gestern dort. Ich hatte … ein komisches Gefühl dort. Obwohl ich schon oft dort durchgekommen bin. Irgendetwas war anders.«
»Hattest du das Gefühl, in Gefahr zu sein?«
Er lächelte. »Ich empfand Angst, aber alles, was ich sah, war ein Nebel.«
»Ich weiß, dass diese Ruinen fünftausend Jahre alt sind«, sagte sie. »Vielleicht hast du den Geist von jemandem gespürt, der lange tot ist. Aber wenn ich etwas Interessantes finde, lasse ich es dich wissen, Grauer Mann.«
»Wahrscheinlich ist es nichts. Aber es war zu warm für Nebel, und er schien gegen den Wind zu fließen. Wäre das Mädchen nicht bei mir gewesen, hätte ich das Phänomen erforscht. Ich mag keine Rätsel.«
Damit drehte er sich um und ging.
Als der Graue Mann die Bibliothek verließ, öffnete sich eine kleine Tür, und ein schlanker Mann mit hängenden Schultern trat zu der Priesterin. Wie sie war auch er kahlgeschoren und trug ein knöchellanges Gewand. Es war aus weißer Wolle, mit passenden Handschuhen und Stiefeln aus dünnem, hellgrauem Leder. Seine gelbbraunen Augen blickten nervös zur äußeren Tür. »Er gefällt mir nicht«, sagte er. »Er ist ein ebensolcher Wilder wie sie.«
»Nein, Prial«, widersprach sie. »Es bestehen zwar Ähnlichkeiten, aber er besitzt nicht ihre Grausamkeit.«
»Er ist ein Mörder.«
»Ja, er ist ein Mörder«, gab sie ihm Recht. »Und er wusste, dass du hinter der Tür warst.«
»Wie könnte er? Ich habe kaum gewagt zu atmen.«
»Er wusste es. Er hat ein unbewusstes Talent für diese Dinge. Das ist, glaube ich, auch der Grund dafür, weshalb er so lange überlebt hat.«
»Und doch wusste er nicht, dass einer der Banditen sich über ihm in einem Baum versteckte?«
Die Priesterin lächelte. »Nein, das wusste er nicht. Aber er hatte seine Armbrust wenige Minuten zuvor geladen und hielt sie schussbereit, als der Mann sprang. Wie ich schon sagte, es ist ein unbewusstes Talent.«
»Ich dachte einen Augenblick schon, du würdest es ihm erzählen«, sagte Prial.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe immer noch, dass ich es nicht tun muss. Vielleicht finden sie uns ja nicht, ehe wir unsere Aufgabe vollbracht haben.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ich möchte es gern glauben.«
»Genau wie ich, Ustarte. Aber die Zeit ist knapp, und wir haben den Weg noch immer nicht gefunden. Ich habe jetzt über zweihundert Bände durchgesehen. Menias und Corvidal mindestens ebenso viele, und es sind noch immer mehr als tausend übrig. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass diese Menschen längst die Wahrheit über Kuan Hador vergessen haben?«
»Sie können es nicht gänzlich vergessen haben«, sagte Ustarte. »Selbst der Name des Landes ist ähnlich geblieben. Wir sind auf Hinweise auf Dämonen und Monster gestoßen und auf die Helden, die gegen sie kämpften. Meist nur Fragmente, aber irgendwo muss es einen Schlüssel geben.«
»Wie lange wird es noch dauern, bis das Tor sich zu öffnen beginnt?«, fragte er sie.
»Eher Tage als Wochen. Doch die Wesen des Nebels sind schon hier. Der Graue Mann hat das Böse in ihnen gespürt.«
»Und jetzt beginnt das Sterben«, sagte Prial traurig.
»Ja, das wird es«, gab sie zu. »Und wir müssen unsere Suche mit Hoffnung im Herzen fortsetzen.«
»Ich verliere allmählich die Hoffnung, Ustarte. Wie viele Welten müssen wir noch untergehen sehen, ehe wir uns eingestehen, dass wir zu schwach sind, sie zu retten?«
Die Priesterin seufzte und stand auf, das schwere Seidenkleid raschelte bei jeder Bewegung. »Diese eine Welt hat sie vor dreitausend Jahren besiegt. Sie haben sie durch die Tore zurückgetrieben. Trotz der Macht ihrer Zauberei und der Verbündeten, die sie mitbrachten, wurden sie zurückgeschlagen. Selbst die Kriaznor konnten sie nicht retten.«
Prial sah ihr nicht in die Augen. »Fünf Jahre suchen wir schon und haben noch nichts gefunden. Jetzt haben wir- vielleicht - noch ein paar Tage. Dann schicken sie einen Ipsissimus, und er wird unsere Anwesenheit spüren.«
»Er ist schon hier«, sagte sie leise.
Prial schauderte. »Du hast ihn
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