Waylander der Graue
Bände, verblichene Pergamente, sogar Ton- und Steintafeln. Einige waren nicht zu entziffern, zogen jedoch trotzdem Gelehrte aus so weit entfernten Gegenden wie Ventria und dem angostinischen Mutterland an.
Seine Suche wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn der alte Bibliothekar Cashpir nicht mit Fieber im Bett gelegen hätte. Seine Kenntnis der Bibliothek war phänomenal, und mit seiner Hilfe hatte Waylander viele der kostbaren Bände zusammengetragen. Er versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem er über die leuchtenden Schwerter gelesen hatte. Ein Unwetter hatte getobt, an einem schwarzen, tief hängenden Himmel. Er hatte an dem Platz gesessen, an dem jetzt die Priesterin saß, und im Licht der Laternen gelesen. Drei Tage lang zermarterte er sich schon das Hirn nach einer hilfreichen Erinnerung.
Er blickte zu dem offenen Fenster mit den neuen hölzernen Läden. Dann fiel es ihm ein.
Die alten Läden waren undicht gewesen, und der Regen war auf die nächststehenden Regale gespritzt und hatte die dort gelagerten Dokumente beschädigt. Waylander und Cashpir hatten einige der Schriftrollen zum Tisch getragen. Es war eine derjenigen, die er müßig überflogen hatte. Das Regal unmittelbar neben dem Fenster war noch immer leer. Waylander ging durch den Raum in das kleine Büro, das Cashpir benutzte. Ein heilloses Durcheinander herrschte hier, überall lagen Schriftrollen, und er konnte kaum die lederbezogene Tischplatte unter den Unmengen von Büchern und Pergamenten sehen. Cashpir hatte einen erstaunlichen Verstand, aber nicht das geringste Gespür für Ordnung.
Waylander ging um den Schreibtisch herum und setzte sich. Er nahm die Pergamente zur Hand und dachte daran, was damals am Tage des Unwetters sein Interesse geweckt hatte. Eine der Schriftrollen hatte von riesigen Wesen berichtet, die aus Menschen und Tieren verschmolzen waren. Waylander selbst war vor zwanzig Jahren von solchen Wesen verfolgt worden; ein Nadir-Schamane hatte sie auf ihn gehetzt, um ihn zu töten.
Waylander studierte eine der Schriftrollen nach der anderen, ehe er sie neben sich auf den Fußboden legte. Endlich nahm er ein vergilbtes Pergament in die Hand und erkannte es auf der Stelle weder. Die Tinte war an einigen Stellen stark verblasst, und ein Abschnitt war von Schimmelpilzen gefleckt.
Cashpir hatte den Rest mit einer Konservierungslösung behandelt, die er selbst ersonnen hatte. Waylander nahm die Schriftrolle mit zurück in die Hauptbibliothek und ging zum Fenster. Im Sonnenlicht las er die ersten Zeilen.
Von der Pracht und Herrlichkeit Kuan Hadors existieren nur noch Ruinen, dunkel und zerklüftet, Zeugnis der fruchtlosen Arroganz der Menschen. Es gibt keine Spuren mehr von den Gottkönigen, die Nebelkrieger werfen keine Schatten mehr im grellen Sonnenschein. Die Geschichte der Stadt ist von der Welt verschwunden, wie auch die Geschichten ihrer Helden und Schurken. Übrig geblieben sind nur noch ein paar widersprüchliche, mündlich überlieferte Legenden, verstümmelte Märchen von Wesen aus Feuer und Eis und Kriegern mit Schwertern aus schimmerndem Licht, die sich gegen die Dämonen stellten, die aus Mensch und Tier geschaffen waren.
Hat man die Ruinen besichtigt, kann man die Geburt solcher Legenden begreifen. Es gibt umgestürzte Statuen, die offenbar die Köpfe von Wölfen und die Körper von Menschen zeigten. Es gibt Überreste großer Torbögen, die – so weit sich das beurteilen lässt – keinem Zweck dienten. Ein Torbogen, von dem Historiker Ventaculus »Hadors Narretei« genannt, ist aus einem einzigen Stück Granit geschliffen. Es ist ein höchst seltsames Stück, denn wenn man es näher untersucht, stellt man fest, dass die auf der Innenseite der Torsäulen eingravierten Bildsymbole beinahe im Stein verschwinden, fast als ob der Stein wie Moos über sie hinweggewachsen sei.
Ich habe viele der Piktogramme kopiert, und mehrere meiner Kollegen haben Jahrzehnte mit dem Versuch verbracht, die komplexe Sprache, die sie enthalten, zu enträtseln. Bislang war uns kein völliger Erfolg vergönnt. Offenbar war Kuan Hador in der antiken Welt einzigartig. Seine Fertigkeiten in der Architektur, das Geschick seiner Künstler tauchen nirgendwo sonst auf. Viele der Steine, die noch stehen, sind vom Feuer geschwärzt, und es ist wahrscheinlich, dass die Stadt bei einem großen Brand zerstört wurde, vielleicht im Verlaufe eines Krieges mit einer benachbarten Zivilisation. Nur wenige Artefakte konnten aus Kuan Hador
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