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Weg da das ist mein Fettnapfchen

Weg da das ist mein Fettnapfchen

Titel: Weg da das ist mein Fettnapfchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Notaro Laurie
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arbeiten geht, sondern den ganzen Tag zu Hause rumlungert« wurden. Wir lernten den pensionierten Anwalt kennen, der ein Stück die Straße hinauf wohnt und den ich mehrmals pro Woche mit seinen Rehpinschern beim Gassige hen gesehen hatte; die Bibliothekarin, die der Star des Feie rtagsprogramms im Seniorenzentrum war, und eine junge Frau in Begleitung ihres Ehemanns, die ebenfalls keine Menschenseele kannte. Allerdings machte sie sich sichtlich weniger Gedanken darüber, welchen ersten Eindruck sie in ihrer neuen Nachbarschaft hinterließ, wie das fast leere Weinglas in ihrer Hand bewies. Ziemlich dumm, dachte ich. Gluck, gluck, gluck! Das hier ist eine Weihnachtsparty für Nachbarn, kein Singletreff. Du musst dich von deiner besten Seite zeigen. Showtime, meine Liebe.
    Eine halbe Stunde später war es auch schon so weit. Sie blieb nicht aus, die große Katastrophe. Wir hatten gerade ein Stück Schinken und etwas Knabberzeug verputzt, als Martha den Raum betrat und mit einer ausladenden Handbewegung ein paar Leute auswählte, auch wenn mir nicht klar war, nach welchen Kriterien sie dabei vorging. Mein Ehemann blieb verschont, wohingegen mir das Glück nicht so wohlgesinnt war. Martha nahm mich am Ellbogen und führte mich mit den restlichen Kandidaten ins Esszimmer. Kaum hatten wir uns vor dem Klavier versammelt, wurden von einer Assistentin auch schon Notenblätter mit dem Text von »Jingle Bells« verteilt, und Martha setzte sich an die Tasten. Ich hatte mich geirrt. Ich war diejenige, für die es jetzt hieß: Showtime .
    Oh, wie sehr ich mir wünschte, ich hätte den Apfelsaft weggelassen und mir stattdessen ein paar ordentliche Schnäpse hinter die Binde gegossen. Ich kann einfach nicht singen. Meine ganze Familie ist in dieser Hinsicht absolut anders begabt. Wann immer wir im Schein einer Geburtstagstorte »Happy Birthday« anstimmen, hören wir uns nicht wie eine Familie an, die ein Lied singt, sondern wie eine Horde Hyänen, die sich auf ein frisch geschlagenes Beutestück stürzt. Und in meinem Fall will ich das keinem unschuldigen Menschen zumuten oder zumindest nicht all jenen, die uns noch nicht bei der Polizei angezeigt haben. Noch ist unklar, wer aus dem Notaro-Clan falsch singt oder stocktaub ist, aber es spielt auch keine Rolle, weil wir es sowieso nicht sagen können. Tatsache ist, dass wir es alle wissen, und statt uns als Familie zusammenzufinden und uns offen zu unseren Unzulänglichkeiten zu bekennen, haben wir Splittergruppen gebildet, die sich über das »Talent« der Mitglieder der anderen Splittergruppen erbarmungslos lustig machen. An den Feiertagen, wenn es hart auf hart geht, sieht es vordergründig so aus, als würden alle brav mitmachen und fröhliche Lieder singen, aber wenn man genau hinhört, fällt einem auf, wie mager das Ganze klingt. Es ist offensichtlich, dass achtzig Prozent von uns lediglich die Lippen bewegen, sodass die ganze Last an den eingeheirateten Familienmitgliedern und den Kindern hängen bleibt, die noch zu klein sind, um sich ihres stimmlichen Erbes schon bewusst zu sein.
    Deshalb hielt sich meine Begeisterung schwer in Grenzen, als mir der Zettel mit dem Text in die Hand gedrückt wurde und Martha in die Tasten griff. Mir war nicht bewusst gewesen, dass eine Gesangseinlage von mir erwartet werden würde. Auf der Einladung hatte jedenfalls nichts von einem obligatorischen Einsatz meiner Stimmbänder gestanden. Außerdem blieb mir schleierhaft, weshalb nur eine Handvoll Opfer dafür ausgewählt worden war. Wieso musste man unbedingt Unschuldige auswählen, statt sich einfach hinzusetzen, ein paar Akkorde zu spielen und zu warten, bis alle jene, die gern im Rampenlicht stehen, herbeigelaufen kamen?
    Die junge Frau, die ich in der Küche kennengelernt hatte, stand neben mir. Wir tauschten einen mitfühlenden Blick, der mir verriet, dass auch sie sich fragte, was um alles in der Welt sie verbrochen hatte, um hier stehen zu müssen.
    Martha hatte unterdessen das Intro beendet und stimmte fröhlich die Melodie an. Mir fiel auf, dass die meisten Mitglieder unseres Chors durchaus über eine robuste Stimme verfügten, allen voran die Bibliothekarin aus dem Seniorenprogramm. Nachdem ich so getan hatte, als könnte ich mich an die erste Zeile nicht mehr erinnern, mimte ich ein Lachen, alberte ein bisschen herum und fiel schließlich herzhaft in den Gesang ein.
    Ohne einen Laut von mir zu geben.
    Trotzdem gab ich vor, mich prächtig zu amüsieren, und setzte sogar meinen

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