Weg da das ist mein Fettnapfchen
Zeigefinger ein, um sicherzugehen, dass Text und Melodie in Einklang standen, sah die anderen Sangeskünstler an, zauberte ein Lächeln in meine Augen, so wie Tyra Banks es von ihren Nachwuchsmodels verlangt, und nickte kurz, als ich das Gefühl hatte, den Moment des Jubilierens effektvoll unterstreichen zu müssen. Und nur fürs Protokoll – es machte echt Spaß. Außer mir praktiziert in meiner Familie niemand die hohe Kunst des »Luftgesangs«, vielmehr stehen wir miesepetrig und mit knurrenden Mägen herum und warten darauf, dass das doofe Lied endlich vorbei ist.
Doch ich ertappte mich dabei, dass ich bei »Jingle Bells« tatsächlich meinen Spaß und sogar das Gefühl hatte, ernsthaft ein Teil dieser Chorgemeinschaft zu sein, als die Musik unvermittelt aufhörte und die Stimmen im Raum verklangen wie eine Horde Büffel, die von einer Klippe springt. Alle waren verstummt. Und als ich aufsah, um herauszufinden, was los war, sah ich geradewegs in Marthas Augen, die auf mich gerichtet waren.
Ich spürte, wie sich mein Gesicht flammend rot färbte.
»Laurie«, sagte sie vor allen Leuten, »tust du etwa nur so, als würdest du mitsingen?«
Falls jemand bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst hatte, wer ich war, dann wusste er es spätestens jetzt. Ich war die stumme Sängerin. Die Song-Zerstörerin. Die Jingle-Bells-Terroristin. Alle Augen richteten sich auf mich, bohrten sich in mich hinein. Meine neue Weißweinfreundin trat einen Schritt zur Seite, und ich spürte, wie mir ihre Verachtung entgegenschwappte.
»Ich habe nicht darum gebeten, singen zu dürfen«, hätte ich ihr am liebsten entgegengeschleudert. »Ich will nicht singen. Du hast diese Entscheidung für mich getroffen! Du bist herumgelaufen und hast willkürlich Leute ausgesucht, wie die Broadway-Version von Dr. Mengele. ›Du singst!‹ – ›Du singst!‹ – ›Du darfst nur zusehen!‹ Ich wollte doch nur meine Gastgeberin nicht beleidigen und gleichzeitig meinen neuen Nachbarn keinen Gehörschaden zufügen. Ja, manchmal kommt etwas aus meinem Mund, aber es ist nicht die Stimme eines Singvögelchens. Sondern das Geräusch von Kreide auf einer Schiefertafel.«
Aber natürlich sagte ich all das nicht. Stattdessen stand ich da, gefangen in der lähmenden Stille und den Blicken, selbst denen meines Mannes, und sagte schlicht: »Ja.«
»O nein«, sagte Martha wie aus der Pistole geschossen. »Das ist doch eine Party, deshalb müssen wir alle singen.«
»Es tut mir leid.«
»Jerry …« Martha bedeutete einem älteren Mann, er solle meinen Platz einnehmen. »Ich brauche hier jemanden, der mitmacht.«
»Laurie«, fuhr sie fort und sah mich an, während Jerry mir das Textblatt aus der Hand riss. Fast rechnete ich damit, dass sie mich ins Büro der Rektorin schicken würde, wo ich warten sollte, bis das Kollegium entschieden hatte, was mit mir zu passieren habe.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte sie, dachte kurz nach und reichte mir ein Glöckchen, das auf dem Klavier stand. »Du kannst stattdessen die Glöckchen läuten.«
Ich lächelte, als hätte ich mir schon mein ganzes Leben gewünscht, einmal die Glöckchen läuten zu dürfen. Als hätte ich sie gleich beim Hereinkommen entdeckt und freute mich jetzt, dass sie endlich mir gehörten, oder als hätte ich, wenn ich die Chance gehabt hätte, einen Abschluss im Glöckchenspielen zu machen, die Gelegenheit mit Begeisterung beim Schopf gepackt.
Sichtlich zufrieden, mir nun zur Not einen Schlag auf den Hinterkopf versetzen zu können, lächelte Martha höflich, zählte bis drei und fing wieder an zu spielen. Lächelnd sah ich zu, wie alle Sänger brav taten, worin ich so jämmerlich versagt hatte, und wartete auf Marthas Zeichen für meinen Einsatz. Schließlich nickte sie einmal kräftig mitten im Refrain, woraufhin ich mir die Seele aus dem Leib glöckelte. Jin! Gle! Bells! Jin! Gle! Bells! Jin! Gle! All! The! Way! Oh! What! Fun! It! Is! To! Ride! In! A! One! Horse! O! Pen! Sleigh! EY!
Es war, als atmeten sämtliche Gäste kollektiv auf, als sie sahen, dass ich tatsächlich die Glöckchen läutete und nicht nur den Kopf hin und her bewegte und »ching, ching, ching« murmelte.
A! Day! Or! Two! A! Go! I! Thought! I’d! Take! A! Ride! …
Wieder hatte ich allen Ernstes das Gefühl, zur fröhlichen Stimmung und Festtagsatmosphäre beizutragen und als Gast zu gelten, der sein Geld wert war. Ich legte mich mit aller Kraft und Energie ins Zeug, als die Musik erneut abrupt endete, diesmal jedoch nur
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