Weg da das ist mein Fettnapfchen
lange genug, dass Martha die rechte Hand heben und »Nur beim Refrain, meine Liebe« sagen konnte, ehe sie ihren Chor zur zweiten Strophe führte, die ich so offenkundig versaut hatte.
»Jingle Bells« hat vier Strophen, nur für den Fall, dass irgendeiner es nicht wissen sollte, und wenn Weihnachtspedanten dieses Lied gern mit allem Drum und Dran singen, was in unserem Fall ziemlich wahrscheinlich ist, da uns Gästen der vollständige Text ausgehändigt worden war, kann das Ganze geradezu Avatar -eske Ausmaße annehmen.
Als wir endlich fertig waren, lächelte Martha erneut, nahm mir die Glöckchen aus der Hand und bedankte sich bei mir. Mein Mann stand bereits mit meinem Mantel an der Haustür, während meine Glöckchenhand regelrecht darum bettelte, sich in einer Gelenkschiene erholen zu dürfen. Wir redeten nie darüber, wussten aber beide, dass wir, wenn wir das nächste Mal in eine neue Gegend zogen, uns entweder im Vorfeld eine gute Ausrede einfallen lassen oder Nachhilfe beim Zirkus nehmen mussten, bevor wir eine Einladung annahmen.
Ein Jahr später machten mein Mann und ich uns gerade fertig, um einen Happen essen zu gehen, als uns etwas Seltsames auffiel. Überall auf der ganzen Straße standen Autos, so viele, dass sie fast schon unsere Einfahrt blockierten. Ich hatte nie so viele Autos hier gesehen. Und das war noch nicht alles.
Es war wie im Film. Die Leute strömten aus allen Richtungen herbei, allesamt dick eingemummelt, mit Schals und Mützen und teilweise Geschenken unterm Arm. Und alle steuerten auf Marthas Haus zu. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich glatt behauptet, ein Schlitten mit mehreren Pferden und dicken Karodecken habe am Straßenrand angehalten und eine Handvoll Damen aussteigen lassen.
Von der Veranda aus konnte ich in Marthas Wohnzimmer blicken, wo sich die Gäste bereits drängten. Der Bilderbuchweihnachtsbaum war aufgestellt worden, und im Kamin knisterte ein fröhliches Feuer. Die Leute standen beisammen und freuten sich über den leckeren Schinken, den es bestimmt auch in diesem Jahr gab.
Wie auf ein Stichwort sahen mein Mann und ich uns an. Ich öffnete den Mund, doch ich war zu verdattert, als dass ein Laut herausgedrungen wäre.
»Sag jetzt nicht, es würde dich wundern«, meinte mein Mann, nachdem er die Eingangstür verriegelt und sich mit dem Rücken davorgestellt hatte.
»Ich fasse es nicht, dass sie uns nicht eingeladen hat«, flüsterte ich.
» TJA, ICH SCHON «, erwiderte er.
Und er hatte recht. Wir waren gnadenlos von der Nachbarschaftsweihnachtsparty ausgeschlossen worden, so einfach war das. Keine zweite Chance, keine Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Einmal kurz nur die Lippen bewegt, und schon waren wir ins Sibirien der Weihnachtsfeierlichkeiten verbannt worden. Keine Bitte um Erklärung, warum ich nicht mitgesungen hatte. Allem Anschein nach hatte ich meine Gastgeberin zutiefst gekränkt, indem ich mich nicht in vollem Ausmaß am feiertäglichen Treiben beteiligt hatte, und deshalb würde es kein zweites Mal für mich geben.
Ich gab mir alle Mühe, es nicht persönlich zu nehmen, und wahrscheinlich tat es umso mehr weh, weil ich Martha und ihren Mann sehr gern mochte und sie eigentlich für nette Leute hielt. Ich fühlte mich jedenfalls zutiefst verletzt. Ja, okay, ich bin ein mieses Dreckstück, weil ich versucht habe, mich um ein Weihnachtslied herumzumogeln. Und, ja, ich bin die Nachbarin, die beim Glöckchenläuten offenkundig zu weit gegangen ist. Ja, ich bin die Frau, die jederzeit wieder nur die Lippen bewegen würde, wenn sie singen müsste. Denn wenn meine Gastgeberin das als schlimm empfindet, dann soll sie erst mal eine Kostprobe von dem Schaden bekommen, den ich anrichten kann, wenn ich so richtig in die Vollen gehe. Es gibt Menschen, die beim Klang des Katastrophenalarms gelassener bleiben, als wenn sie mich singen hören. Und da waren wir also – frisch hierhergezogen und doch schon als Außenseiter abgestempelt. Ich konnte nur hoffen, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Vielleicht war das dort drüben ja gar nicht dieselbe Nachbarschaftsparty wie im letzten Jahr, sondern eine, bei der wir sowieso nicht zu den Gästen passen würden, so wie die Doktorandenpartys, zu denen wir häufig eingeladen waren. Vielleicht wurde dieses Fest ja ausschließlich für die Mitglieder des Seniorenzentrums veranstaltet, redete ich mir ein. Aber dann sah ich durchs Fenster einen anderen Nachbarn mit jemandem plaudern, der definitiv nicht
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