Weg der Träume
stolperte er aus dem Schlafzimmer, fiel fast über ein Spielzeug und war immer noch wie benebelt, als er den schlaftrunkenen Jungen auf den Arm nahm. Unterwegs zur hinteren Veranda flüsterte er leise auf ihn ein. Das war das Einzige, womit er sich beruhigen ließ. Innerhalb von Minuten schwächte sich das Schluchzen zu einem Wimmern ab, und Miles war wieder einmal froh darüber, dass das Haus frei stand und Mrs. Knowlson, die am nächsten wohnte, schwerhörig war.
In der feuchten, dunstigen Luft schaukelte Miles mit Jonah auf dem Schoß vor und zurück und flüsterte ihm unentwegt leise Worte ins Ohr. Das Mondlicht goss einen hellen Pfad über das träge fließende Wasser. Die tief hängenden Eichen und die weiß glänzenden Zypressenstämme an den Flussufern verliehen dem Ausblick eine zeitlose Schönheit. Dieser Teil der Welt schien sich seit Jahrtausenden nicht verändert zu haben.
Als Jonah wieder tief und regelmäßig atmete, war es fast fünf Uhr morgens, und Miles wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde. Deshalb brachte er Jonah zurück ins Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Am Tisch sitzend, rieb er sich die Augen und das Gesicht, damit das Blut besser zirkulierte, und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel leuchtete am Horizont schon silbrig, und die Morgendämmerung sickerte allmählich durch das Laub der Bäume.
Wieder wanderten Miles' Gedanken zu Sarah Andrews.
Er fühlte sich von ihr angezogen, so viel war sicher. Er hatte seit Jahren nicht mehr so stark auf eine Frau reagiert. Auch in Missy hatte er sich natürlich verliebt, aber das war fünfzehn Jahre her. Eine Ewigkeit. Und er hatte Missy auc h immer begehrt, nur hatte sich das Gefühl mit der Zeit geändert. Die anfängliche Vernarrtheit - das ungestüme, jugendliche Verlangen, alles über sie zu erfahren - war durch etwas Tieferes und Reiferes ersetzt worden. Bei Missy gab es keine Überraschungen mehr. Er wusste, wie sie aussah, wenn sie morgens aufstand, er hatte die Furchen der Erschöpfung gesehen, die Jonahs Geburt auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Er kannte sie genau - ihre Gefühle, ihre Ängste, was sie mochte und was nicht. Aber diese Anziehungskraft, die Sarah auf ihn ausübte, war… neuartig, und durch sie fühlte auch Miles sich neu, als habe das Leben einen neuen Anfang genommen. Jetzt erst merkte er, wie sehr ihm das gefehlt hatte.
Aber was sollte daraus werden? Darüber war er sich noch nicht im Klaren. Er konnte nicht voraussagen, was geschehen würde. Er wusste nichts über Sarah - vielleicht passten sie gar nicht zusammen. Es gab tausend Dinge, die eine Beziehung zum Scheitern verurteilen konnten, dessen war er sich bewusst.
Dennoch hatte sie ihm auf Anhieb gefallen…
Miles schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Sinnlos, darüber nachzugrübeln. Und doch hatte ihn die Begegnung daran erinnert, dass er neu anfangen wollte. Er wollte wieder jemanden finden - und nicht den Rest seines Lebens allein verbringen. Manche Menschen konnten das. Es gab Menschen in der Stadt, die ihre Partner verloren und nie wieder geheiratet hatten, aber dafür war er nicht geschaffen. Während seiner Ehe hatte er nie den Eindruck gehabt, er verpasse etwas. Er hatte seine alleinstehenden Freunde nicht beneidet und sich auch nicht gewünscht, für eine Weile mit ihnen zu tauschen - Verabredungen, Affären, sich verlieben und wieder entlieben… Das passte nicht zu ihm. Er war gern Ehemann, er war gern Vater, er liebte die Sicherheit und wollte wieder in dieser Sicherheit leben.
Oder vielleicht doch eher nicht…
Miles seufzte und blickte wieder aus dem Fenster. Am unteren Himmelsrand war es noch heller geworden. Miles stand auf, ging durch den Flur zum Kinderzimmer - Jonah schlief noch - und drückte die Tür zum Schlafzimmer auf. Im Dunkeln erkannte er die Bilder, die er gerahmt hatte. Sie standen auf der Kommode und auf der Bettumrahmung. Er sah zwar keine Einzelheiten, aber er wusste trotzdem genau, was sie zeigten: Missy auf der Veranda mit einem Strauß Wiesenblumen; Missy und Jonah, breit grinsend, die Köpfe nah an der Kamera; Missy und Miles auf dem Weg zum Altar…
Miles setzte sich auf das Bett. Neben den Fotos lag der braune Aktenordner, den er in seiner Freizeit angelegt hatte. Weil Sheriffs bei Verkehrsunfällen keine rechtlichen Befugnisse haben - und man hätte ihm ohnehin nicht erlaubt zu ermitteln - hatte er sich an die Fersen der Verkehrspolizisten geheftet, dieselben Leute
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