Weg der Träume
befragt, dieselben Fragen gestellt und dieselben Anhaltspunkte studiert. Da alle wussten, was er durchgemacht hatte, verweigerten sie ihm ihre Hilfe nicht, doch am Ende wusste er nicht mehr als die offiziellen Ermittler. Und der Ordner blieb als ständige Mahnung auf dem Bücherbord liegen, als fordere er Miles auf, endlich den Fahrer des Wagens aufzuspüren.
Aber das schien nicht mehr möglich, so gern Miles auch die Person bestraft hätte, die sein Leben zerstört hatte. Der Betreffende sollte teuer für seine Tat bezahlen, das wünschte er sich, und das war seine Pflicht als Ehemann und Gesetzeshüter. Aug um Auge… stand das nicht in der Bibel?
Wie fast jeden Morgen starrte Miles den Aktenordner an und stellte sich die Person vor, die Missy auf dem Gewissen hatte. Immer wieder liefen dieselben Szenen vor seinem inneren Auge ab, und immer wieder stellte er sich eine bestimmte Frage.
Wenn es ein Unfall gewesen war, wenn der Fahrer keine Schuld hatte, warum hatte er dann Fahrerflucht begangen?
Der einzige Grund, der Miles einfiel, war, dass der Fahrer getrunken hatte, vielleicht von einer Party nach Hause fuhr oder sich am Wochenende regelmäßig betrank. Ein Mann wahrscheinlich, um die dreißig oder vierzig. Davon war Miles überzeugt, auch wenn es keine Beweise gab. Vor seinem geistigen Auge sah Miles ihn mit überhöhter Geschwindigkeit von einer Straßenseite zur anderen schlingern und in letzter Sekunde das Lenkrad herumreißen, weil sein Verstand nur noch in Zeitlupe arbeitete. Vielleicht griff er nach dem Bier, die fast leere Flasche zwischen die Beine geklemmt, und entdeckte Missy erst in letzter Sekunde. Oder er hatte sie überhaupt nicht gesehen. Vielleicht hatte er nur den Aufprall gehört und mitbekommen, wie der Wagen ruckte. Nicht einmal da war er in Panik geraten.
Der Straßenbelag wies keine Schleuderspuren auf, obwohl der Fahrer angehalten hatte, um zu sehen, was passiert war. Das ergab die Spurensicherung - Details, die in der Zeitung nie erwähnt wurden.
Niemand sonst hatte etwas gesehen. Keine anderen Autos fuhren auf der Straße, keine Hausbeleuchtung schaltete sich an, niemand führte gerade seinen Hund aus oder stellte den Rasensprenkler ab. Selbst in seinem benebelten Zustand hatte der Fahrer begriffen, dass Missy tot war und dass er zumindest mit einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung, wenn nicht gar wegen Totschlags zu rechnen hatte. Strafanzeige. Gefängnis. Leben hinter Gittern. Solche und noch beängstigendere Gedanken mussten ihm durch den Kopf geschossen sein und ihn zur Flucht gedrängt haben, bevor ihn jemand entdeckte. Und er floh, ohne daran zu denken, wie viel Schmerz er zurücklassen würde.
Entweder das - oder jemand hatte Missy mit Absicht umgebracht.
Irgendein Verrückter, dem das Töten Lust bereitete, solche Leute gab es.
Oder war Miles Ryan das eigentliche Ziel gewesen?
Er war Sheriff, er hatte sich Feinde gemacht. Er hatte Leute verhaftet und gegen sie ausgesagt. Er hatte Dutzende von Menschen ins Gefängnis gebracht.
Einer von denen?
Die Liste war endlos, er hätte geradezu einen Verfolgungswahn entwickeln können.
Miles seufzte, schlug den Ordner auf und ergab sich dem Sog, den er auf ihn ausübte.
Ein kleines Detail des Unfalls passte nicht in das Bild, und mit den Jahren hatte Miles zahllose Fragezeichen an den Rand gemalt. Gleich an der Unfallstelle hatte er davon erfahren.
Der Fahrer des Wagens, wer immer es gewesen war, hatte Missys Leichnam mit einer Decke zugedeckt.
Auch das hatte nie in der Zeitung gestanden.
Eine Weile hatte man gehofft, die Decke würde Hinweise auf die Identität des Fahrers offenbaren. Vergebens. Es war eine Decke, die zur Erste-Hilfe-Ausrüstung gehörte und bei jedem Autohändler und in jedem großen Supermarkt zu finden war. Es war unmöglich, festzustellen, woher sie kam.
Aber… warum?
Diese Frage nagte unaufhörlich an Miles.
Warum den Leichnam zudecken und dann Fahrerflucht begehen? Das war unbegreiflich. Als er es Charlie gegenüber erwähnte, erwiderte dieser etwas, das Miles bis heute nicht aus dem Kopf ging: Es scheint, als wollte der Fahrer sich entschuldigen.
Oder uns auf eine falsche Fährte locken?
Miles war ratlos.
Aber er würde den Fahrer finden, so unwahrscheinlich das auch schien, weil er nicht aufgeben wollte. Dann, und erst dann, konnte er an seine Zukunft denken.
Kapitel 6
Freitagabend, drei Tage nach dem Gespräch mit Miles Ryan, saß Sarah Andrews allein im Wohnzimmer vor ihrem zweiten
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