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Weg der Träume

Weg der Träume

Titel: Weg der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Sparks
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sie nicht länger ausspionieren durfte.
    Das Ende kam an einem Tag, den ich nie vergessen werde.
    Es war Missys erster Todestag. Nach einem Jahr Versteckspielen in der Dunkelheit fühlte ich mich schon fast unsichtbar. Ich war ein professioneller Voyeur geworden - seit einigen Monaten brachte ich ein Fernglas mit. Zu manchen Zeiten waren nämlich auch andere Leute draußen auf der Straße oder in den Gärten, und ich konnte nicht nahe genug an die Fenster herantreten. Oder Miles hatte die Jalousien heruntergezogen, und weil mein Drang sich so nicht befriedigen ließ, musste ich mir etwas einfallen lassen. Das Fernglas löste mein Problem. Am Rande des Grundstücks, nahe am Fluss, steht eine riesige alte Eiche. Die Äste sind dick und setzen dicht über dem Boden an, manche verlaufen parallel zur Erde. Dort schlug ich manchmal mein Lager auf. Wenn ich hoch genug kletterte , sah ich ungehindert direkt ins Küchenfenster hinein. Ich verbrachte dort Stunden, bis Jonah ins Bett ging, und danach beobachtete ich Miles in der Küche.
    Im Verlauf des Jahres veränderten wir uns beide.
    Zwar las er immer noch in dem Ordner, aber nicht mehr so häufig wie früher. Mit der Zeit ließ das Bedürfnis, mich zu finden, nach. Nicht, dass es ihm weniger wichtig wurde, aber die Realitäten des Lebens holten ihn ein. Der Fall war ins Stocken geraten, und Miles erkannte das wohl. An Missys Todestag holte er den Ordner hervor, sobald Jonah im Bett war. Aber er brütete nicht mehr über ihm. Er blätterte ihn durch, ohne Bleistift oder Kugelschreiber, schrieb nichts mehr hinein - es war fast, als schaue er sich ein Fotoalbum an und frische alte Erinnerungen auf. Bald darauf legte er ihn weg und verschwand im Wohnzimmer.
    Als ich begriff, dass er nicht zurückkommen würde, stieg ich vom Baum herab und kroch zur Veranda.
    Die Jalousien waren halb geschlossen, aber das Fenster stand offen, damit die kühle Abendluft ins Zimmer gelangte. Von meinem Aussichtspunkt aus entdeckte ich Miles auf dem Sofa. Neben ihm stand eine Pappschachtel, und seiner Blickñchtung entnahm ich, dass er Fernsehen schaute. Ich hielt mein Ohr dicht ans Fenster und lauschte, aber nichts, was ich hörte, ergab einen Sinn. Während längerer Phasen schien niemand zu sprechen, verschiedene Geräusche wirkten verzerrt, die Stimmen undeutlich. Als ich Miles ansah, um zu erraten, was er sich anschaute, begriff ich plötzlich. Seine Augen, seine Mundwinkel, seine Haltung - all das deutete darauf hin.
    Er schaute alte selbst gedrehte Filme an.
    Plötzlich passte alles zusammen, und als ich die Augen schloss, erkannte ich auch die Stimmen. Miles, seine Sprachmelodie, das helle Geplappere eines Kindes. Im Hintergrund, schwach, aber hörbar, vernahm man eine andere Stimme. Ihre Stimme. Missy.
    Es war erschreckend, fremdartig, und verschlug mir für einen Moment den Atem. Nach all der Zeit, nach einem Jahr des Spionierens, glaubte ich, Miles und Jonah gut zu kennen, aber die Klänge jener Nacht änderten alles. Ich kannte Miles nicht, ich kannte Jonah nicht.
    Wie gelähmt hörte ich zu.
    Ihre Stimme entfernte sich. Dann hörte ich sie lachen.
    Es drehte mir den Magen um, und ich blickte sofort zu Miles, um seine Reaktion zu sehen. Er würde in Erinnerungen versunken auf den Bildschirm starren, Tränen des Zorns in den Augen.
    Aber ich irrte mich.
    Er weinte nicht. Er blickte mit zärtlichem Gesichtsausdruck auf den Bildschirm und lächelte.
    Und da wusste ich mit einem Mal, dass es an der Zeit war, aufzuhören.
    Nach jenem Abend glaubte ich aufrichtig, ich würde nie mehr zu ihrem Haus zurückkehren. In der folgenden Zeit versuchte ich, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen, und oberflächlich gelang mir das auch. Meine Umgebung fand, ich sähe besser aus und sei wieder ganz der Alte.
    Fast glaubte ich das auch. Da der Zwang mich nicht mehr beherrschte, glaubte ich, der Albtraum läge hinter mir. Nicht meine Tat natürlich, nicht die Tatsache, dass ich Missy getötet hatte, aber immerhin die zwanghaften Schuldgefühle, die mich ein Jahr lang gequält hatten.
    Ich erkannte nicht, dass Schuld und Angst nicht wirklich überwunden waren. Sie hatten sich nur zurückgezogen, wie ein Bär, der überwintert und sich von seinen eigenen Reserven ernährt, bis das nächste Frühjahr kommt.

Kapitel 29
    Am Sonntagmorgen um kurz nach acht klopfte es an Sarahs Haustür. Sie zögerte kurz, dann stand sie auf und öffnete. Fast hoffte sie, es wäre Miles.
    Noch mit der Hand auf dem Türknauf

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