Weg der Träume
alt und zu müde, um mich mit solchem Mist zu beschäftigen.«
Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. »Ich brauche den Ordner, Miles.«
»Meinen Ordner?«
»Ich will ihn als Beweisstück registrieren lassen.«
»Als Beweisstück? Wofür?«
»Es geht um den Tod von Missy Ryan, oder? Ich will die Notizen sehen, die du gemacht hast.«
»Charlie…«
»Ich meine es ernst. Entweder gibst du ihn mir, oder ich hole ihn. Das eine oder das andere, aber glaub mir, am Ende bekomme ich ihn.«
»Warum tust du das, Charlie?«
»Ich hoffe, dass dein Verstand demnächst wieder funktioniert. Du hast mir offensichtlich gestern überhaupt nicht zugehört, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Halt dich raus. Lass uns das erledigen.«
»Gut.«
»Du musst mir dein Wort geben, dass du nicht weiter nach Sims suchst und dich von Otis Timson fern hältst.«
»Wir leben in einer kleinen Stadt, Charlie. Ich kann nichts dafür, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen.«
Charlie kniff die Augen zusammen. »Ich hab keine Lust mehr auf diese Spielchen, Miles, und ich sage dir eins: Wenn du dich Otis auch nur auf dreißig Meter näherst oder seinem Wohnwagen oder wo er sich sonst herumtreibt, bringe ich dich hinter Gitter.«
Miles sah Charlie ungläubig an. »Warum?«
»Wegen Körperverletzung.«
»Was?«
»Dieses Kunststückchen da im Auto…«
Charlie schüttelte den Kopf. »Du scheinst nicht zu begreifen, dass du dir eine Menge Ärger einhandelst. Entweder du hältst dich von ihm fern, oder du landest in der Zelle.«
»Das ist absurd…«
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Weißt du, wo ich letzte Nacht war?«
Charlie wartete nicht auf die Antwort. »Ich habe hier in der Straße geparkt und aufgepasst, dass du nicht wegfährst. Weißt du, wie ich mich fühle, wenn ich merke, dass ich dir nach allem, was wir durchgestanden haben, nicht mehr trauen kann? Es ist ein beschissenes Gefühl, und ich kann darauf verzichten. Also, wenn du so freundlich wärst, mir neben dem Ordner auch noch die Waffen auszuhändigen, die du im Haus hast? Du bekommst sie zurück, wenn alles vorbei ist. Wenn du dich weigerst, lasse ich dich überwachen. Das ist kein Witz. Du wirst keinen Kaffee trinken können, ohne dass dir jemand dabei auf die Finger schaut. Und übrigens sind auch draußen bei den Timsons Deputys, die nach dir Ausschau halten.«
Miles verweigerte immer noch beharrlich den Blickkontakt.
»Er saß damals am Steuer, Charlie.«
»Glaubst du das wirklich, Miles? Oder willst du nur ein Ergebnis - irgendeines?« Miles sah ruckartig hoch.
»Das ist unfair.«
»Ach ja? Ich hab mit Earl gesprochen, nicht du. Ich habe die Berichte der Verkehrspolizei Wort für Wort gelesen. Und ich sage dir, keine einzige Spur führt zu Otis.«
»Ich finde sie schon…«
»Nein!«, schnauzte Charlie. »Gena u darum geht es! Du wirst nichts finden, weil du dich gefälligst raushältst!«
Miles sagte nichts, und Charlie legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Hör zu - wir kümmern uns darum, darauf hast du mein Wort.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß auch nicht… vielleicht finden wir ja etwas. Und wenn, dann bin ich der Erste, der zugibt, dass ich Unrecht hatte und dass Otis kriegt, was er verdient. Okay?«
Charlie wartete, aber Miles biss die Zähne zusammen. Als er merkte, dass er keine Antwort bekommen würde, fuhr Charlie fort:
»Ich weiß, wie schwer es ist…«
Miles schüttelte Charlies Hand ab und starrte ihn erbittert an.
»Gar nichts weißt du«, fuhr er ihn an, »heute nicht und niemals. Brenda ist noch da, kapierst du? Ihr wacht im selben Bett auf, du kannst sie anrufen, wann immer du willst. Niemand hat sie kaltblütig überfahren, niemand kommt seit Jahren ungestraft davon. Doch jetzt, Charlie, das schwöre ich, jetzt wird niemand mehr davonkommen.«
Trotzdem fuhr Charlie zehn Minuten später mit dem Ordner und den Waffen fort. Die beiden Männer hatten kein Wort mehr gewechselt.
Das war auch nicht nötig. Charlie tat seine Pflicht. Und Miles hatte vor, die seine zu tun.
Als Brian gegangen war, blieb Sarah wie betäubt im Wohnzimmer sitzen. Auch nachdem sie aufgehö rt hatte zu weinen, rührte sie sich nicht, als fürchte sie, auch die geringste Bewegung könne ihr empfindliches Gleichgewicht zerstören.
Einen Sinn konnte sie in alledem nicht erkennen.
Sie hatte nicht die Energie, ihre Gefühle zu sortieren, die völlig ungeordnet durcheinander wirbelten. Sie kam sich vor wie ein
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