Weg mit den Pillen
tanzten, Musik spielte, Figuren auf- und abgingen. Der Mensch entwickelte aus totem Material und brachialer Energie Dinge, die sich fein und koordiniert bewegten, mechanische Erfindungen, die sich gaben, als wären sie lebendig. Was ist naheliegender, als den Gedanken umzudrehen und zu überlegen:
Wenn wir Menschen tote Materie über mechanische Prinzipien wie lebendig erscheinen lassen können, könnte es nicht sein, dass lebendiges Verhalten auf mechanischen Prinzipien beruht? Wäre es nicht denkbar, dass so ähnlich wie Spieluhren – aufgezogen, mit Federn, Wellen, Kurbeln und Zahnrädern versehen – Lebewesen wie Spielautomaten sind, nur etwas komplizierter und nicht mit metallenen Bauteilen, sondern anderen? Ist nicht das Blut so etwas wie eine hydraulische Flüssigkeit? Und sind nicht Knochen so wie Gestänge und Gelenke so wie Zahnräder und Verbindungselemente? Ist es nicht völlig naheliegend, darüber nachzudenken, ob Organismen im Grunde apparative Mechanismen sind?
Damit war das Denkmodell vom Organismus als einer Maschine
geboren. Descartes verstand dies vor allem als eine Metapher, als ein Bild, vielleicht ein Programm. Aber das Bild hat gewirkt. Es wurde im 19. Jahrhundert aufgegriffen und beflügelt seither die Entwicklung der Physiologie, der Medizin und aller ihrer Forschungszweige. Es ist so in uns eingedrungen, dass wir es nicht mehr nur als Metapher oder Leitgedanken verwenden. Nein, wir sehen den Körper, wir sehen uns genau so , nämlich nicht wie eine Maschine, sondern als Maschine. Abbildung 2 , ein Plakat für eine Ausstellung der 1930er-Jahre, verdeutlicht, dass schon Anfang des 20. Jahrhunderts diese Metapher Allgemeingut geworden war.
Harvey hat zur gleichen Zeit diesen Gedanken an einem konkreten Beispiel, dem Herzen, vorexerziert. Er hat regelrecht bewiesen: Das Herz ist eine Pumpe. Ende der Diskussion. Und genauso wird es nun behandelt. Nicht wie eine Pumpe, sondern als Pumpe. Wie weit diese Vorstellung mittlerweile in unsere Köpfe gedrungen ist, das sehen wir beispielhaft an meinem Bekannten Helmut, der »neue Leitungen« braucht. Wir sehen bei genauem Betrachten : Das Maschinenparadigma, das Descartes in die Welt gesetzt hat (zusammen mit einigen parallel arbeitenden Gleichgesinnten wie Harvey), es hat unsere gesamte Kultur durchdrungen, ist in unser Denken eingedrungen wie ein Pilz. Wir können gar nicht mehr anders als über unseren Organismus sprechen und denken denn als Maschine. Wir sind so von diesem Paradigma, dieser Metapher gefangen, dass es für uns zur Wirklichkeit wurde. Ja, aber ist es denn nicht Wirklichkeit, werden Sie fragen? Hatte Harvey denn nicht recht? Ist denn nicht das Herz tatsächlich eine Pumpe, eine Maschine, und der Organismus gleichfalls? Ja und nein, antworte ich. Genauer müsste es heißen: Ja, unter bestimmten Bedingungen und in gewisser Hinsicht. Nein, wenn man dieses Denken verabsolutiert. Was meine ich damit?
Abb. 2 : Kahn: Der Mensch als Industriepalast – Plakat für eine Ausstellung.
Gehen Sie oft in ein Restaurant und essen die Speisekarte? Nein? Warum auch, wäre ja doof. Aber kollektiv benehmen wir uns oft so, vor allem in der Wissenschaft. Wir verwechseln die Modelle, die wir verwenden, um die Wirklichkeit zu beschreiben, mit der Wirklichkeit selbst. Genauso ist es mit dem Maschinenparadigma des Körpers. Es ist ein Modell, eine Abstraktion, eine bestimmte Form der Landkartendarstellung sozusagen, eine Speisekarte meinethalben. Aber es ist nicht die Wirklichkeit und beschreibt sie nicht in ihrer Ganzheit. Es ist eine bestimmte Form, auf die Wirklichkeit zu blicken, aber es ist nicht die Wirklichkeit selbst.
Wer Erfahrung mit Wanderungen im Gebirge und mit dem Lesen von Landkarten hat, weiß, was ich meine. Man sieht auf der Karte: Aha, hier geht es steil bergauf, über einen Südhang, schrofendurchsetzt, und oben ist eine Scharte, da ist der Weg in den Fels gezeichnet, drüben geht es flacher über sanfte Hänge wieder hinunter, kleine Mulde etc. Aber was das wirklich konkret bedeutet, das erfahren wir erst, wenn wir wirklich vor Ort sind. Wir spüren dann, dass steiler Aufstieg über vielleicht 500 Höhenmeter in einem Südhang nicht nur eine objektive Größe ist, sondern bei Hitze im Sommer bedeuten kann: Anstrengung, Schweiß, Ärger über den späten Aufbruch, unendliche Hitze, zu wenig Wasser (wieder mal), und dann das Gekraxel in den mittlerweile aufgeheizten Felsstufen. Und dann wissen wir auch, was anschließend ein sanfter
Weitere Kostenlose Bücher