Weg mit den Pillen
Alter von 74 Jahren. Und ich weiß noch, dass er über diese Symptome geklagt hatte, seit ich mich erinnern kann. Also sagen wir, mehr als 36 Jahre lang hatte er diese Symptome, die eigentlich Anzeichen für eine Erkrankung der Koronararterien waren. Er hatte vermutlich schon über Jahre zugefallene Arterien am Herzen, wohl schon seit er Ende 30 war. Fast 40 Jahre hat er damit gelebt. Als er gegen Ende 40 war, kam er von einer Kur wieder zurück, auf die er wegen Rückenbeschwerden und Übergewicht geschickt worden war, und fing an zu joggen. Ich bin manchmal mit ihm mitgelaufen. Wir sind vielleicht eine Stunde gelaufen, nicht schnell, aber ich war ziemlich erstaunt über seine Kondition. Zweimal pro Woche ging er dann regelmäßig laufen, meist eine Stunde oder länger. Das hielt er bis kurz vor seinem Tod durch. Mit zugefallenen Koronararterien, wie sich sehr viel später herausstellte.
Mit meinem Bekannten Helmut habe ich mich des Öfteren über seine Erkrankung, die Behandlung und sein Befinden unterhalten. Er sagte dann manchmal Dinge wie: »Die Pumpe ist kaputt. Die Zuleitungsröhrchen sind verstopft und müssen wieder sauber geputzt oder erneuert werden . « Als ich ihn über die Herz-OP
befragte, sagte er: »Da legen sie eine Umleitung für das Blut« . Alles verlief bestens, er war einer von vielen hunderttausend Patienten, die pro Jahr eine solche Operation zur Beseitigung ihrer Angina-pectoris-Beschwerden und zur Abwendung eines drohenden Herzinfarktes erhalten. Heute geht es ihm gut, die OP war erfolgreich, das Konzept hat funktioniert, so scheint es.
Angina pectoris entsteht, wenn Koronararterien am Herzen zu eng werden, weil sich – sehr vereinfacht gesagt – an den Gefäßwänden Ablagerungen und Blutgerinnsel bilden. Auslöser für die Ablagerungen können kleine innere Verletzungen durch eine Infektion oder eine von innen her verursachte Entzündung sein. Dann kann nicht mehr genügend Blut zu bestimmten Bereichen des Herzmuskels transportiert werden. Der reagiert oft mit Schmerzen, aber auf jeden Fall mit einer verringerten Leistung.
Es gibt verschiedene therapeutische Konzepte, wie man eine solche Problematik behandeln kann: Wenn noch ein bisschen Blut durch die Ader kommt und diese noch nicht ganz verstopft ist, verwendet man oft weniger invasive Methoden. Dann kann man mit einem sogenannten Ballonkatheter versuchen, die Ader wieder zu weiten: Er wird wie ein Ballon innerhalb der Arterie aufgeblasen und dehnt sie dadurch; das Prinzip leuchtet ein. Oder man versucht mit Laserchirurgie innerhalb der Ader das entsprechende Gerinnsel »wegzubrennen«. Auch das klingt plausibel. Wenn es heftig kommt, muss man chirurgisch entweder zwischen den Rippen hindurch in den Brustraum gehen oder den Brustkorb öffnen. Dann lassen sich Ersatz-Aderverbindungen legen, indem man an unwichtigeren Stellen, etwa den Schenkeln, ein paar Blutgefäße wegnimmt und sie am Herzen wieder einsetzt. Man kann auch künstliche Umleitungen einbauen, die manchmal sogar so angelegt sind, dass sie Medikamente abgeben.
Diese Einsichten, Erkenntnisse und Interventionsmethoden verwende ich als Beispiel um zu illustrieren, wie unser momentanes Denkparadigma funktioniert. Es ist das Maschinenparadigma vom Körper. Bitteschön: Harvey hat gesagt, das Herz sei eine Pumpe, und er hatte recht, im weitesten Sinne. Wie kam er überhaupt darauf,
so zu denken, fragt man sich? Etwa zur gleichen Zeit, als Harvey über die Funktion des Herzens nachdachte, dachte der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650) nicht nur über die Erkenntnis im Allgemeinen nach, sondern auch über die Funktionsweise von Organismen. Er schrieb seinen berühmten »Traktat über den Menschen« (»Traité de l’homme«). In diesem Buch, das richtungweisend für die gesamte Biologie und Medizin der folgenden Jahrhunderte wurde und noch bis heute wirkt, stellte Descartes die einfache, damals extrem provokante, heute absolut einleuchtende Behauptung auf: Alle Organismen sind Maschinen. Sie funktionieren wie Apparate, die der Mensch herstellt.
Bekannt war ja damals die Uhrmacherkunst, die erstaunliche Produkte hervorbrachte. Denn sie führt uns vor Augen, wie über Mechanik Energie in gezielte, konzentrierte Bewegung umgesetzt werden kann. Zu Descartes’ Zeit gab es schon sehr ausgefeilte kosmische Uhren, die nicht nur die Zeit anzeigten, sondern auch die Planeten und den Mond in einem Modell kreisen ließen. Spieluhren entstanden, bei denen Puppen
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