Weg mit den Pillen
es auch falsche Dinge daraus. Und wenn das wiederholt passiert, kann die Bekämpfung der Erreger unvollständig sein. Manche Theorien gehen davon aus, dass verschiedene Untertypen des chronischen Müdigkeitssyndroms oder bestimmter Formen von Depression so entstehen, sozusagen als Nachhall einer schlecht oder falsch behandelten Infektion. 13
Eigentlich ist die Fieberreaktion als Ganzes eine Heilreaktion, eine Selbstheilung des Organismus, sein Versuch, das ursprüngliche Gleichgewicht und die dynamische Balance aller Einzelsysteme, die wir Gesundheit nennen, wiederherzustellen. Und so ist es mit vielen Krankheitssymptomen. Sie sind häufig Versuche des Organismus, sich wieder zu regulieren, zumindest im akuten Fall. Ein einigermaßen robuster Organismus heilt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst. Wir können keine abgehackten Gliedmaßen nachwachsen lassen. Aber Wunden schließen sich von selbst, sofern sie nicht zu sehr infiziert sind, und auch viele Symptome innerer Krankheiten sind im Grunde missratene Selbstheilungsversuche. Ein alter medizinischer Leitsatz lautet: medicus curat, natura sanat – der Arzt trägt Sorge und pflegt, die Natur ist es, die heilt. Diese leise, versteckte Form der Selbstheilung ist es, die viele sanfte Heilweisen nutzen, um den Organismus wieder in die Balance zu bringen. Die Homöopathie etwa tut dies mit »nichts«, also mit Kügelchen, die keine pharmakologischen Wirksubstanzen enthalten. Ob sie noch etwas anderes außer »nichts« enthalten, also »Information«, ein »Feld«, oder ob sie – wie ich meine – einfach ein Symbol innerhalb eines komplexen Heilrituals sind, das wollen wir hier
einmal dahingestellt sein lassen. Denn das ist für unsere Diskussion gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass dieses Geben von »nichts« ein äußerst therapeutischer Akt sein kann. Denn er appelliert sozusagen an die Selbstregulationskräfte des Organismus und setzt sie frei.
Andere Verfahren setzen allgemeine, unspezifische Reize, die in der gleichen Form für sehr viele verschiedene Krankheiten eingesetzt werden können. Die Bädertherapie etwa oder die allgemeine Ordnungstherapie der Naturheilverfahren funktionieren so. Wieder andere Verfahren setzen sehr schwache Reize. Hierzu gehören die moderneren Elektrotherapieverfahren oder die Akupunktur. Psychotherapeutische Verfahren funktionieren oft sehr ähnlich: Sie bringen den Menschen aus den eingefahrenen Denk- und Erlebnismustern heraus. Das erlaubt es, sich plötzlich wieder neu zu sehen und neue Dinge auszuprobieren.
Hier ist, als Arbeitsdefinition, mein Verständnis: Eine gute Therapie, egal welcher Art, führt dazu, dass ein kreativer Raum entstehen kann, in dem alte Bahnen verlassen und neue gefunden werden können. Eine gute Therapie versetzt die gültigen Regeln der Krankheit für einen Moment in einen Mittagsschlaf und macht es dadurch möglich, dass ein kleines oder großes Wunder passiert. Dieses Wunder ist die Selbstheilung in Aktion, wenn sie – unterstützt durch therapeutische Maßnahmen – ihre heilsame Wirkung entfalten darf. Noch einmal anders gesagt: Eine gute Therapie sollte eigentlich immer darauf hinzielen, den Organismus in seinen Selbstheilungstendenzen zu unterstützen und ihn nicht noch unnötig zu stören oder zu belasten.
Hier sind ein paar klassische Beispiele. Dan Moerman, der an der University of Chicago »Medical Anthropology« lehrt, also Medizinethnologie, hat eine schöne Geschichte beschrieben, die ihm auf seinen ausgedehnten Reisen durch die USA begegnet ist. 14 Er hat nämlich die gesamten Heilkräuter der USA katalogisiert und ist dabei viel mit Vertretern der Urbevölkerung in Kontakt gekommen. Er beschreibt eindrücklich ein Heilritual der Navajos. Wenn dort jemand krank ist, dann kommt die erweiterte Familie zusammen.
Die Heilkundigen bringen Kräuter herbei. Diese werden in einen großen Topf gegeben und es wird mit viel Zeremonie und Brimborium ein Sud daraus gekocht. Die Heilkräuter sind übrigens allesamt pharmakologisch hoch wirksam; das wissen wir inzwischen. Es wird getanzt und gesungen, der Kranke in der Mitte der Gruppe. Und dann? Dann schütten sich alle den etwas abgekühlten Sud über die Köpfe. Alle – vor allem die, die nicht krank sind. Wir würden sagen: So ein Unfug, warum nicht dem Kranken zu trinken geben? Das würden wir tun: Pharmakologie rein, Krankheit raus. Nein. Die Navajos haben ein anderes Verständnis. Für sie ist Krankheit eine Entfremdung des Einzelnen vom
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