Weg mit den Pillen
bagatellisiert. In Tat und Wahrheit sind sie aber Kern und Rückgrat aller therapeutischen Bemühungen. Denn sie ermöglichen die therapeutischen Eigenleistungen des Organismus, die Selbstheilungseffekte. Wir gehen normalerweise davon aus, dass die kausalen, spezifischen Effekte der Arzneimittel die wichtigsten sind, und dass die Effekte der Bedeutung, des Kontextes vernachlässigt werden können. Dabei ist es höchstwahrscheinlich andersherum. Ich verwende gerne das Bild der Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, als Illustration.
In der Kathedrale von Chartres findet man einige große Glasfenster mit einem seltsamen Motiv ( Abb. 4 ): Die vier Evangelisten als Zwerge sitzen auf den Schultern von Propheten, die als Riesen dargestellt sind. Dieses Bild ist von einem Wort des Bernhard von Chartres abgeleitet, eines mittelalterlichen Gelehrten. Der zitierte seinen Lehrer Johannes von Salisbury, der zu sagen pflegte: Wir sehen so weit, weil wir Zwerge sind, die auf den Schultern von Riesen sitzen 19 . Er meinte damit natürlich das Verhältnis der neuen Einsichten zur alten Tradition. Ich münze das Bild um: Unsere spezifischen, kausalen Therapien – die Herzoperation, das Schmerzmedikament, die allgemeinen therapeutischen Bemühungen unseres medizinischen Systems – sie funktionieren so gut, weil sie Zwerge
sind, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Die Riesen sind in diesem Falle die unspezifischen Effekte der Therapie, das, was Jerome D. Frank die allgemeinen therapeutischen Effekte nannte und ich oben als Selbstheilung charakterisiert habe. Sie sind die Basis für alle anderen spezifischen Maßnahmen und ohne diese Selbstheilung würde kaum etwas therapeutisch funktionieren. Dass wir dies aus dem Auge verloren haben und so tun, als könnten wir ohne diese allgemeinen Effekte auskommen, zeigt, wie verblendet wir sind. Woher kommt das? Nun, es ist meiner Meinung nach wieder ein Ausdruck des allgemeinen Denkmodells. Genauer: Es beruht auf der Logik der Medikamentenentwicklung.
Abb. 4 : Kathedrale von Chartres – der Evangelist Markus sitzt auf den Schultern des Propheten Daniel, Markus ist als Zwerg, Daniel als Riese dargestellt.
Was man als Laie über Statistik wissen sollte
Seit den späten 1940er-Jahren hat sich als Standard einer Testung für neu entwickelte Medikamente der Doppelblindtest durchgesetzt. Dabei wissen weder Patienten noch Ärzte oder beteiligte Schwestern und Wissenschaftler, welcher Patient ein echtes Medikament erhält und wer ein Scheinmedikament. Die Scheinmedikamente werden in aller Regel so hergestellt, dass sie in Form und Farbe und allen anderen äußeren Charakteristika dem wirklichen Medikament gleichen. Die Idee dahinter ist leicht nachvollziehbar. Wir wissen,
wie stark Suggestionen und Erwartungen die Wahrnehmung therapeutischer Effekte beeinflussen. Da ist zum einen die Erwartung, die Patienten haben. Wenn sie wissen, dass sie durch ein richtiges Medikament behandelt werden, ist die Tendenz größer, dieses als wirksam zu beurteilen. Wenn sie nicht wissen, was sie eingenommen haben, dann berichten sie über ihre Befindlichkeit eher neutral. Das gleiche gilt für Ärzte und Krankenschwestern. Die sogenannte Verblindung sorgt dafür, dass sie alle Patienten gleich behandeln, überall gleich gut untersuchen und nicht bei denen sorgfältiger nachsehen, bei denen sie wissen, dass die echte Medikation verabreicht wurde. Auch diejenigen, die messen und untersuchen, sind »blind« und dadurch wird die Gefahr verringert, dass sie unbewusst besser messen oder das Gemessene ein klein wenig freundlicher darstellen.
Bereits in den 1960er-Jahren hatte der Psychologieprofessor Robert Rosenthal gezeigt, dass es sehr subtile Experimentator-Effekte gibt, wenn die Experimentatoren wissen, welches Ergebnis erwartet wird. 20 Er ließ studentische Experimentatoren mit Laborratten arbeiten und gab ihnen falsche Informationen. Den einen sagte er, die Ratten seien speziell trainiert und sehr intelligent beim Auffinden von Nahrung in einem Labyrinth. Den anderen gab er diese Information nicht. Tatsächlich aber waren alle Ratten Neulinge im Labyrinth. Diejenigen Experimentatoren, die erwarteten, dass die Ratten speziell trainiert seien, maßen in der Tat mit ihren Stoppuhren kürzere Zeiten, wenn die Tiere im Labyrinth nach ihrer Nahrung suchten. Ob die Tiere tatsächlich schneller waren oder die Studenten etwas schneller drückten, ist unerheblich. Tatsache ist: Erwartung beeinflusst, was
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