Weg mit den Pillen
es gäbe ja genug davon, also wird die körpereigene Produktion noch mehr gedrosselt. Das hat den unangenehmen Effekt, dass nach Absetzen der Substanz der Schmerz umso heftiger zuschlägt. Dies ist natürlich auch der grundlegende Mechanismus der Suchtentstehung.
Wie kann man zentrale Prozesse noch beeinflussen, außer durch Pharmakologie? Jawohl, richtig geraten: durch Psychologie. Und hier setzt die Placeboforschung wieder ein. Denn an Schmerzforschungsmodellen hat man zum ersten Mal festgestellt, dass Endorphine eine Rolle spielen müssen, wenn durch psychologische Suggestionen Schmerz reduziert wird. Die ersten Versuche dieser Art wurden Ende der 1970er-Jahre durch Jon D. Levine gemacht, und seither wurden viele solcher Versuche wiederholt und modifiziert. Der originale Versuch von Levine war so aufgebaut: 33 Patienten nach Zahnextraktion erhielten entweder Morphium als Schmerzmittel. Oder aber man gab ihnen anschließend noch Naloxon. Das ist ein pharmakologischer Gegenspieler des Morphiums, der die entsprechenden Rezeptoren besetzt, sodass das Morphium seine Wirkung verliert. Manche erhielten dann anschließend noch Placebo, oder umgekehrt Placebo und dann Naloxon. Alle dachten natürlich, sie würden Schmerzmedikamente bekommen. Denn keiner wusste ja, was bei wem verabreicht wurde, auch die Ärzte und Schwestern nicht. Es zeigte sich, dass manche Patienten unter Placebo eine deutliche Schmerzreduktion erlebten. Die wurde aber durch Naloxon wieder rückgängig gemacht und die ursprünglichen
Schmerzen kehrten wieder. Das Gleiche galt für die Patienten, denen man Naloxon gegeben hatte, sodass das Morphium nicht mehr wirken konnte. Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass beim Nachlassen des Schmerzes nach Placebo – also aufgrund der Erwartung, die erweckt worden war – Endorphine wirksam sein müssten.
Ich kürze ab: Dieses Forschungsmodell wurde vielfach wiederholt, mit sehr raffinierten Verbesserungen. In jüngerer Zeit hat die italienische Arbeitsgruppe um Fabrizio Benedetti aus Turin diese Befunde mehrfach bestärkt, durch extrem raffinierte Versuche. Sie haben sogar noch mehr gezeigt: Man kann davon ausgehen, dass alle Schmerzreduktionen nach Placebogabe durch das Endorphinsystem vermittelt sind, und die Erwartung der Entstehung von Schmerzen durch ein anderes System. Man kann diese Veränderungen der Schmerzwahrnehmung durch Lernprozesse modulieren. So wird verständlich, dass man durch wiederholte positive Erfahrungen im Rahmen einer Therapie, die die Erwartung auf Heilung anregt, sehr stabile Erfolge erleben kann. Wir können summarisch davon ausgehen: Wann immer eine starke Erwartung erzeugt wird, werden endogene Morphine ausgeschüttet. Diese führen zu Wohlbefinden und zu einer Reduktion der Schmerzempfindung. Während Benedetti und Kollegen das vor allem mit pharmakologischen Substanzen gezeigt haben, ist dies neuerdings auch mit bildgebenden Verfahren belegt worden. Diese zeigen, dass bei einer Reduktion von Schmerzen nach Placebogabe das Endorphinnetzwerk im Gehirn aktiv wird. Aber nur bei den Patienten, bei denen auch wirklich subjektiv eine Besserung eingetreten ist. Das heißt, reduziertes Schmerzerleben ist in der Tat an die Aktivität des Opiatnetzwerkes im Gehirn gekoppelt. Es ist dabei eigentlich unerheblich, ob diese Reduktion des Schmerzerlebens durch richtiges, extern zugeführtes Morphium geschieht, oder durch die Aktivierung einer positiven Erwartung. Es ist immer das gleiche Netzwerk aktiv.
Die Aktivierung von Erwartung auf Besserung führt also zu einer Ausschüttung von Endorphinen. Diese bewirken offensichtlich
Schmerzreduktion und Wohlbefinden. Solche Zusammenhänge sind übrigens nicht nur für Schmerzsyndrome wichtig. Denn Endorphine haben eine viel breitere Wirkung. Sie sind wie gesagt auch dafür zuständig, dass allgemeines Wohlbefinden eintritt, und sie sind sehr eng mit dem Dopaminsystem verkoppelt, das wiederum für Lernprozesse verantwortlich ist. Wir dürfen also aufgrund der Datenlage davon ausgehen, dass das Erzeugen positiver Erwartungen, wie sie mit allen möglichen Therapieformen verknüpft ist, schon in sich ein höchst therapeutischer Akt ist.
Man kann dies auch noch zuspitzen: Es ist eine krasse Fehlwahrnehmung zu glauben, nur Moleküle und Pharmaka, die man von außen zuführt, könnten kausale Effekte erzeugen. Psychologie und das, was man von innen mit sich selbst anstellt oder über die Sprache und die Zeichengebung
mit anderen, ist genauso wirksam
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