Wege des Herzens
geholfen hat, statt ein Hotel mit fünfzig Zimmern zu eröffnen. Das ist mein Ernst.« Ein riskantes Projekt dieser Größenordnung jagte Andreas kolossale Angst ein.
»Ich habe gestern Abend mit Fiona gesprochen. Sie hat mich angerufen und mir erzählt, dass sich die Zwillinge schon sehr darauf freuen, uns kennenzulernen. Stell dir nur vor, wie überwältigend der Eindruck für sie sein muss, wenn sie in ihrem Alter das erste Mal unsere traumhaft schöne Insel sehen …« Lächelnd deutete sie auf den Hafen und die rötlich leuchtenden Berge. »Fiona hat erzählt, dass ihr Freund sie heiraten will. Sie ist sehr glücklich. Es hört sich an, als sei ihr Verlobter ein sehr anständiger Mann.«
»Wenn du schon wegmusst, Vonni, dann bleib bitte nicht zu lange fort«, bat Andreas.
Es war ein guter Rat gewesen, ein Schiff zu nehmen, das frühmorgens ankam. Maud und Simon lehnten an der Reling der Fähre, als sie am nächsten Tag in den Hafen einliefen und aufgeregt auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten deuteten, von denen Fiona ihnen erzählt hatte. Das langgezogene, flache weiße Gebäude musste das Anna Beach Hotel sein, und das große Haus hoch oben am Berg das Krankenhaus.
Muttie hatte vorgeschlagen, dass sie Vonni eine Flasche Whiskey mitbringen sollten. Fiona hatte es ihnen strikt verboten, das sei wirklich das Letzte, was Vonni brauchen könne. So brachten sie ihr stattdessen eine Dose mit Porter-Cake-Keksen mit.
Ein wenig Angst hatten Maud und Simon schon davor, Vonni bald persönlich gegenüberzustehen. Fiona war bereits eine furchteinflößende Autoritätsperson, aber diese Frau war um einiges älter und wahrscheinlich ziemlich exzentrisch, sonst wäre sie wohl nie auf die Idee gekommen, einen Hühnerstall für sie herzurichten.
Fiona hatte ihnen zu Hause eingetrichtert, dass sie auf jeden Fall alles tun sollten, was Vonni ihnen auftrug – sei es, Wolle für Blinde auszusuchen oder Einkäufe von dem Markt zu schleppen, der am Hang oberhalb des Ortes abgehalten wurde. Vielleicht verlangte Vonni auch von ihnen, dass sie Werbebroschüren für ihren Laden an Tagestouristen verteilten. Und dabei hatte Fiona sie noch einmal warnend darauf hingewiesen, dass sie ständig über ihr Treiben auf dem Laufenden wäre, da sie in Kontakt mit Yorghis, dem Polizeichef, stünde.
Die Zwillinge wagten vor lauter Angst kaum, seinen Namen laut auszusprechen.
Im Hafen herrschte ein buntes Treiben – schwarz gekleidete ältere Frauen schleppten ihre Hühnerkäfige und Körbe mit Einkäufen von der Fähre, Familien fielen einander, Wiedersehen feiernd, um den Hals, aus einem Straßencafé drang laute Musik.
»Weißt du was, das ist wie …«, fing Maud an.
»Wie im Film!«, beendete Simon glücklich den Satz für sie.
Und dann trugen sie ihre Rucksäcke die Straße des sechsundzwanzigsten März hinauf und fanden auf Anhieb Vonnis Haus. Neugierig, was für ein Mensch ihnen wohl die Tür aufmachen würde, klopften sie.
Vonni war klein und drahtig und trug das lange Haar zu einem Zopf geflochten. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht, und ihr Lächeln war warm und herzlich.
»Ihr seht aus, als könntet ihr ein gutes Frühstück vertragen. Was mögt ihr denn?«, fragte sie.
»
Avga
, wenn das in Ordnung ist …«, sagte Simon.
»Aber wir essen alles«, fügte Maud höflich hinzu.
»
Avga
. Ihr habt ja schon Griechisch gelernt.«
»Bisher habe ich erst zehn Wörter gelernt, lauter Namen für Essen, das wir uns gerade so leisten können«, gestand Simon.
»Ach, wenn ihr doch schon hier gewesen wärt, als meine prächtigen Hennen noch Eier gelegt haben, dann hättet ihr die schönsten
avga
bekommen«, meinte Vonni seufzend. »Aber wir werden eben das Beste aus gekauften Eiern machen.«
»Können wir Ihnen helfen?« Maud wollte von Anfang an zeigen, wie nützlich sie sein konnten.
»Nein, ihr habt doch auf der Fähre bestimmt die ganze Nacht lang kein Auge zugetan. Bringt eure Sachen in den Hühnerstall hinüber … Aber ich muss wirklich aufhören, ihn so zu nennen.«
»Vielleicht wird es ja wieder ein Hühnerstall, wenn wir weg sind«, tröstete Maud sie.
»Nein, das denke ich nicht. Meine Freunde raten mir, euer Zimmer nächstes Jahr zu vermieten. Ich werde allmählich alt und ein bisschen langsamer, und es gibt inzwischen mehr Souvenirläden als nur den meinen, und sie sind auch noch größer und haben ein besseres Sortiment.«
»Wir werden Ihnen helfen, so gut wir können …«, versprach
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