Wege des Herzens
Töchter müssten irgendwann erkennen, dass sie sich nicht ständig über die Interessen anderer Leute hinwegsetzen könnten.
»Sie haben Ihren Eltern sicher nie Kummer bereitet, Declan«, fügte sie hinzu.
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich habe ich all die Opfer, die sie für mich gebracht haben, auch immer als selbstverständlich angesehen«, gestand er. »Das tun wir doch alle, glaube ich. Sie etwa nicht?«
Und wieder sprudelten die Worte nur so aus Clara heraus, als sie fortfuhr, von ihrem distanzierten Vater zu erzählen, der sich nie für sie interessiert hatte, und von ihrer schwierigen, ständig enttäuschten Mutter, deren einzige Form der Kommunikation aus permanenter Kritik bestand.
»Welcher Ausdruck trifft am ehesten auf Ihre Mutter zu?«, fragte Declan.
»
Bedauern
. Das ist der passende Ausdruck für sie. Sie bedauert ständig irgendetwas. Keiner hat heutzutage Manieren, alles ist so teuer geworden, ein Jammer, dass ich ausgerechnet Alan heiraten musste, dass ich mich von ihm getrennt habe, dass Adi
einen
festen Freund und Linda
keinen
festen Freund hat. Nie passt ihr irgendetwas. Niemand kann es ihr recht machen. So deutlich wie in dem Moment ist mir das eigentlich zuvor noch nie bewusst geworden.« Überrascht blickte Clara auf.
»Vielleicht sollte ich doch Psychiater werden«, meinte Declan scherzhaft.
»Wagen Sie das ja nicht. Sie sind genau die Art von Allgemeinarzt, wie man ihn nur aus Büchern kennt, den man im wirklichen Leben jedoch nie zu Gesicht bekommt. Bleiben Sie dabei, Declan.«
»Das werde ich. Nur würde ich auf andere lieber nicht ganz so bieder und farblos wirken.«
»Ich finde, das sind Sie ganz und gar nicht. In der einen Woche, in der Sie bei uns sind, haben Sie bereits vielen Patienten sehr geholfen. Sie mögen die Menschen, und das merkt man Ihnen an. Was ist daran bieder und farblos?« Sie schien es tatsächlich ernst zu meinen.
»Na ja, Frauen bevorzugen eher die kantigeren Macho-Typen mit weniger Skrupeln und mehr Durchsetzungsvermögen.« Declan versuchte, locker zu klingen.
»Ja, vielleicht für fünf Minuten, aber nicht mehr, wenn sie erwachsen sind.«
»Ich hoffe, Sie haben recht. Ich mache mich nicht sehr gut als gnadenloser Rächer.«
»Ich
habe
recht. Vertrauen Sie mir.«
»Darf ich Sie noch auf ein Glas Wein einladen?«, fragte Declan.
»Nein, Dr.Carroll, und Sie sollten sich besser merken, dass man einen Autofahrer nie zum Trinken ermutigt.«
»Oh, daran habe ich nicht gedacht«, erwiderte er beschämt.
»Ist schon gut, und nach drei Gläsern Claret sollte ich Sie besser auch nicht mehr mit dem Rad fahren lassen. Ich bringe Sie nach Hause.«
Auf dem Nachhauseweg sah Declan, wie seine Mutter den Waschsalon absperrte. Molly hatte zwei Mal die Woche die späte Abendschicht übernommen, und das Geld, das sie dabei verdiente, wurde nach wie vor gespart, damit sich ihr Sohn irgendwann in eine Praxis einkaufen konnte.
»Da drüben ist meine Mutter«, sagte er. »Könnten wir sie vielleicht mitnehmen?« Und dann saß Declan stumm im Wagen und hörte zu, wie seine Mutter Clara Casey, seiner Chefin, vorschwärmte, was für ein begnadeter, für größere Aufgaben bestimmter Kardiologe er doch sei.
Als Declan am Montag darauf Bobby Walsh untersuchte, erkundigte er sich bei ihm nach seinem Hobby. Ob er lieber mit Wasserfarben oder mit Öl male, wollte er wissen. Bobby bevorzugte eindeutig Wasserfarben.
»Und aus welchem Grund?«, fragte Declan.
Lar, der in der Kabine nebenan war, hörte den beiden offenbar zu. »Sie sollten lieber Ihr Gehirn trainieren und jeden Tag etwas Neues dazulernen«, rief er vorwurfsvoll. »Sogar diese junge Fiona, sogar
sie
schafft es, sich jeden Tag ein paar neue Fakten einzuprägen – und dabei ist sie nur eine einfältige kleine Krankenschwester.«
Declan bebte vor Wut, dass dieser Mann Fiona als einfältige kleine Krankenschwester abtat. Doch er ließ sich nichts anmerken. Es war noch zu früh am Tag, um sich zu ärgern. Und bald würde er erfahren, wie es den beiden bei dem Wohltätigkeitsball ergangen war.
»Bin ja gespannt, was die beiden Mädchen über den Ball zu erzählen haben«, sagte er zu Bobby Walsh, während er dessen Blutdruck maß.
»Meine Frau war ebenfalls eingeladen und hat gemeint, dass es ziemlich feuchtfröhlich zuging«, erwiderte Bobby Walsh, der sich freute, auch mal etwas erzählen zu können.
Declans nächster Patient war Jimmy, ein kleiner, drahtiger Mann, der aus dem Westen Irlands stammte. Er
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