Wege des Herzens
herrschte eine fröhliche Atmosphäre, und leises Stimmengewirr lag in der Luft. Danach besichtigte Hilary mehrere Zimmer, jedes mit einem eigenen Bad, und machte auch einen Abstecher in den geräumigen Salon, der groß genug war, um darin Konzerte zu veranstalten. Er verfügte jedoch auch über kleine Nischen, in denen Freunde und Familienangehörige gemütlich beisammensitzen und in Ruhe miteinander plaudern konnten. Es gab sogar einen kleinen Gymnastikraum, in dem Kurse angeboten wurden …
Danach setzte sich Hilary auf eine Tasse Tee mit Claire Cotter zusammen. Beruhigt stellte sie fest, dass das Büro der Leiterin eher schlicht eingerichtet war, ganz im Gegensatz zu der bequemen und komfortablen Einrichtung des übrigen Gebäudes. Hier gab es weder teure Möbel noch dicke Teppiche, nur praktische Aktenschränke und Bücherregale.
Claire Cotter entging nicht, dass Hilary positiv überrascht war. »Wir geben das Geld lieber dafür aus, unseren Bewohnern das Leben so angenehm wie möglich zu machen, damit ihre Angehörigen auch wirklich beruhigt sein können«, erklärte sie.
Erst jetzt erlaubte sich Hilary ein erstes Lächeln.
»Wir wissen sehr wohl, dass es nie leicht ist, Mrs.Hickey. Und so etwas wie einen richtigen Zeitpunkt gibt es nicht.«
»Und woher wissen andere Leute, wann es so weit ist?«, fragte Hilary.
»Sobald ihnen klar wird, dass es für den Betroffenen besser ist«, erwiderte Claire Cotter sanft. »Das kann Ihnen jedoch kein anderer sagen, und kein Mensch sollte Sie deswegen unter Druck setzen.«
»Wissen Sie, die meiste Zeit über geht es meiner Mutter eigentlich recht gut.«
»Und was sagt ihr Arzt dazu?«
»Darüber habe ich mit ihm bisher noch nicht gesprochen. Ihr Zustand hat sich ja erst in den letzten Monaten verschlimmert«, musste Hilary zugeben.
»Ich verstehe. Warum spricht der Arzt nicht erst mal mit Ihrer Mutter? Das könnte Ihnen eventuell Klarheit verschaffen, und dann wissen Sie, woran Sie sind.«
»Ja, vielen Dank, ich werde mit ihm reden«, versprach Hilary.
Diese Frau hatte ihr tatsächlich ein wenig von ihrer Angst genommen und ihr stattdessen das Gefühl gegeben, dass es möglich war, mit dieser schrecklichen Krankheit umzugehen, und dass sie mit ihrem Problem nicht allein war.
Als der Arzt am nächsten Tag zu ihnen ins Haus kam, legte ihre Mutter gerade ein Puzzle und verhielt sich vollkommen normal. Ohne auffällige Symptome würde der Arzt wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass sie kerngesund war.
Jessica war aus irgendeinem Grund der Ansicht, dass Dr.Green Hilarys wegen gekommen war.
»Meine Tochter regt sich immer viel zu sehr auf, Dr.Green«, vertraute sie ihm an. »Dauernd macht sie sich Sorgen um ihre Arbeit, um mich und um alles Mögliche, das nie passieren wird. Sie war schon immer so.«
Überrascht blickte Hilary auf. Etwas am Tonfall ihrer Mutter hatte sich verändert, so als schlüpfte sie aus ihrem normalen, vernünftigen Selbst heraus. Mittlerweile kannte sie die Anzeichen.
Und sie hatte recht.
Stumm saß Hilary daneben und hörte sich an, wie ihre Mutter dem Arzt erklärte, wie traurig es sei, dass ihre Tochter nie geheiratet habe. Zu wählerisch sei sie gewesen und viel zu ernst.
»Und was ist mit Nick?«, fragte Dr.Green sanft.
»Nick? Nick? Meinen Sie diesen jungen Herumtreiber? Soll ich Ihnen mal sagen, was der mir alles gestohlen hat – ich verstehe nicht, wieso Hilary ihn hier im Haus allein hantieren lässt …«
Die Diagnose von Dr.Green war eindeutig. Hilarys Mutter litt unter schwerer Demenz und würde rund um die Uhr betreut werden müssen.
Am Wochenende darauf fuhr Hilary mit ihrer Mutter nach Lilac Court. Claire Cotter, aufmunternd wie schon beim letzten Mal, nahm sie in Empfang. Zuerst las sie sorgfältig den Arztbericht durch, ehe die drei Frauen zu einem kleinen Rundgang durch das Gebäude aufbrachen.
Irgendwann reichte es Jessica jedoch, und sie erklärte mit klarer Stimme, dass sie sich sehr über den Tee und die Besichtigung gefreut habe, aber jetzt würde sie gern wieder nach Hause fahren. Sie habe genug gesehen von diesem Ort und seinen seltsamen alten Bewohnern. Sie wolle auf der Stelle nach Hause.
Von diesem Tag an blieb Jessica nicht eine Sekunde mehr allein im Haus.
Hilary, Nick und Ania wechselten sich in der Pflege ab. Außerdem hatten Gary und Lisa, das nette Paar von nebenan, oft ein Auge auf sie. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren.
Allmählich begann Hilary, sich wieder zu entspannen.
Weitere Kostenlose Bücher