Wege des Herzens
Ihr würde es im Gegensatz zu vielen anderen Menschen erspart bleiben, ihre geliebte Mutter in ein Heim geben zu müssen, weil zu Hause kein Platz mehr für sie war.
Zwei Wochen später erwachte Hilary vom Schlagen einer Tür und stand auf, um nachzusehen: Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter war geschlossen, die Badezimmertür ebenfalls.
Dafür stand die Eingangstür weit offen und schlug gegen den schweren Türstopper. Plötzlich bekam Hilary es mit der Angst zu tun. Unmöglich, dass ihre Mutter die Tür aufgebracht hatte, die nachts stets abgesperrt war. Der Schlüssel lag immer in einer Vase auf dem kleinen Tisch im Flur. Mit zitternder Hand griff Hilary in die Vase. Der Schlüssel war fort.
Sie riss die Türen zum Zimmer ihrer Mutter und zum Bad auf.
Leer.
»Nick,
Nick!
Deine Großmutter ist nicht da!«, rief sie. Aber Nick war noch nicht zu Hause, es war erst drei Uhr morgens. Nick trat in einem Club auf, in dem es um diese Zeit bestimmt hoch hergehen würde. Hastig schlüpfte Hilary in eine warme Hose und in ihren Mantel.
Bitte
, lieber Gott, mach, dass Mutter nicht zu weit weggelaufen ist.
In ihrer Straße war sie nirgends zu sehen, und so lief Hilary durch die kalte Nacht in Richtung der Hauptstraße. Wer waren nur alle diese Menschen, die um diese nachtschlafende Zeit unterwegs waren? Das war doch keine vernünftige Zeit, um aus dem Haus zu gehen. Hilary blieb stehen und beobachtete den Verkehr. In welche Richtung war ihre Mutter wohl gegangen? Die Frage war unmöglich zu beantworten; unschlüssig schaute sie die Straße auf und ab.
Da sah sie in der Ferne die Blaulichter und die Polizisten, die mitten auf der Straße standen und den Verkehr vorbeiwinkten. Wahrscheinlich ein Unfall.
Hilary schwankte und lehnte sich an einen geparkten Wagen. Es war nicht gesagt, dass das ihre Mutter war. Unfälle passierten überall.
Langsam und mit schweren Schritten näherte sie sich schließlich der Unfallstelle, wo sich bereits eine Menschenmenge versammelt hatte und auf den Krankenwagen wartete. Vor einem Haus standen zwei Stühle, die jemand dort hingestellt hatte, und darauf saßen ein Mann und eine Frau in mittlerem Alter. Der Mann zitterte am ganzen Körper.
»Sie war plötzlich da, stand auf einmal in ihrem Nachthemd vor mir. Ich habe ihre Augen gesehen, ihr Blick war wirr. Sie hat nicht gewusst, wo sie war. Mein Gott – kann mir jemand sagen, ob sie noch atmet?«
Die Gesichter der Menschen ringsum spendeten keinen Trost. Wortlos lief Hilary weiter.
Jemand hatte eine Decke über den Körper ihrer Mutter gebreitet, aber sie konnte die vertrauten Hausschuhe unten herausragen sehen. Hilary musste sich am Arm eines Polizisten festhalten.
»Das ist meine Mutter«, rief sie. »Ich bin ganz sicher. Das sind ihre Hausschuhe.« Dann spürte sie noch, wie sie zu Boden sank.
Als Hilary wieder zu sich kam, hatte sich die Menschenmenge vergrößert. Der Krankenwagen war mittlerweile eingetroffen, und Hilary musste mit ansehen, wie ihre Mutter hineingeschoben wurde, ehe fremde Hände ihr ins Wageninnere halfen. Sie stehe unter Schock und müsse ebenfalls behandelt werden, sagte man zu ihr.
Bevor die Sanitäter wegfuhren, bat Hilary: »Könnte jemand dem armen Mann sagen, dass es nicht seine Schuld war? Meine Mutter leidet an Demenz, er muss sich keinen Vorwurf machen …« Dann nahm sie neben dem leblosen Körper ihrer Mutter in dem Krankenwagen Platz.
Erst vor zwei Wochen waren sie diese Straße in Richtung Lilac Court entlanggefahren. Warum hatte sie nicht auf die anderen gehört und ihre Mutter sofort dort untergebracht? Jessica wäre jetzt noch am Leben, und dieser Alptraum wäre nie passiert. Es war alles ihre Schuld.
Hilary wusste, dass dieser Gedanke sie für den Rest ihres Lebens quälen würde.
An dem Tag, an dem sein Sohn endlich wieder nach Hause kam, organisierte Declans Vaters im St. Jarlath Crescent eine Willkommensparty für ihn. Ihm zu Ehren hatten sie die Fassade des Hauses frisch gestrichen, aber Fiona war klar, dass Declan kaum bemerken würde, wie viel harte Arbeit sie geleistet hatten. Deshalb würde sie ihn entsprechend darauf vorbereiten müssen, damit er die Blumenkästen, die Muttie Scarlet gepflanzt hatte, und die tollen neuen Vorhänge, die seine Mutter seit drei Wochen jede Nacht genäht hatte, auch gebührend bewunderte.
»Es war sehr nett von dir, dass du meine Eltern so oft besucht hast.« Declan hielt Fionas Hand, als sie zusammen den Krankenhauskorridor auf und ab
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