Wege des Herzens
mit Naturalien; Ania bekam täglich eine Mahlzeit. So hatte sie immer etwas zu essen und konnte ihre Euros in einer Schachtel unter dem Bett sparen. Inzwischen hatte sie auch noch diese wunderbare Stelle in der Herzklinik bekommen, wo sie sich erstaunlich gut zurechtfand. Sie war jetzt eine Autoritätsperson und gehörte einem Team an. Sie hatte neue Freunde gefunden, die ihr alle halfen, Englisch sprechen zu lernen, und die sie auf ihren Wunsch hin korrigierten, wenn sie mal ein falsches Wort benutzte. Wie sollte sie die Sprache sonst erlernen? Und Clara, ihre Chefin, hatte sie gleich am ersten Tag zum Essen in ein Restaurant ausgeführt, und bei diesem einen Mal war es nicht geblieben. Außerdem hatte ihr die Mutter von Dr.Declan stundenweise Arbeit in ihrer Wäscherei besorgt. Mit der armen Hilary, die auf so tragische Weise ihre Mutter verloren hatte, hatte sie sich ebenfalls angefreundet. Ania hatte ihr geholfen, die Tüten mit der Kleidung ihrer verstorbenen Mutter in diverse Gebrauchtwarenläden zu tragen. Hilary hatte einen warmherzigen, freundlichen Sohn namens Nick, der ihr eine große Stütze war, und jede Woche schien sie ein Stück ihrer alten Stärke zurückzugewinnen.
Einmal sagte Hilary zu Ania, dass sie ein sehr friedvoller Mensch sei, den man gern um sich habe.
»Friedvoll!«, wiederholte Ania das Wort mehrmals.
»Ach, hör lieber nicht auf mich – ich bringe dir nur ein schlechtes Englisch bei.«
»Aber ich mag dieses Wort ›friedvoll‹«, erklärte Ania. »Das wäre ich gern.«
Und bald ging es in den Briefen, die Ania nach Hause an ihre Mutter schrieb, mehr um die Menschen als um den großen Reichtum und den Glamour einer Großstadt, denn sie war keine Zuschauerin mehr, sondern gehörte nun selbst dazu. So schilderte sie anschaulich, wie sie Judy Murphy geholfen hatte, ihre Jack-Russell-Hunde zu baden, und dass sie einen sympathischen polnischen Priester namens Father Tomasz kennengelernt hatte, der sie alle eingeladen hatte, einen Ausflug zur Quelle der heiligen Anna in einem Ort namens Rossmore zu machen. Auch Dr.Declan und seinen schrecklichen Unfall vergaß sie nicht, zu erwähnen, und dass er jetzt Gott sei Dank wieder arbeiten konnte.
Irgendwann war in Anias Briefen auch die Rede von einem netten jungen Mann namens Carl, der Sohn eines ihrer Patienten in der Klinik, der ihr Englischunterricht gab und ihr nebenbei alles über Irland erzählte. Carl war ein richtiger Lehrer an einer richtigen Schule, und einmal hatte er sie dorthin zu einem Krippenspiel mitgenommen. Schon erstaunlich, dass Kinder auf der ganzen Welt die Geschichte des Jesuskindes auf dieselbe Weise erzählten.
»Wenn Du mich sehen könntest, Mamusia, dann wärst Du fast ein wenig stolz auf mich«, schrieb Ania. »Ich habe gelernt, den Menschen in die Augen zu sehen, und ich habe immer Arbeit. Ich spare jeden Cent, und in ungefähr einem Jahr werde ich nach Polen zurückkehren und Dir alles geben, was ich gespart habe.«
Ihre Mutter schrieb zurück, dass sie immer stolz auf ihre Ania sei, und das habe nichts mit irgendwelchen Ersparnissen zu tun. Ania solle ihr Geld besser für sich ausgeben und vielleicht mal ins Theater gehen, sich etwas Hübsches zum Anziehen kaufen oder ein Schmuckstück – das würde ihre Mamusia sich für ihre Tochter wünschen.
Und je realer ihr Leben in Irland für Ania wurde, desto mehr begannen die Erinnerungen an Polen zu verblassen. Bis auf die Briefe an ihre Mutter, eine gelegentliche Unterhaltung in dem Lokal im Erdgeschoss und einen Plausch mit den Mädchen, die sie im kirchlichen Gemeindezentrum traf, dachte oder sprach Ania kein Polnisch mehr.
Stolz erzählte sie Lidia, dass sie jetzt sogar schon auf Englisch träume. Umso größer war der Schock, als sie eines Abends spät nach Hause kam und Marek im Restaurant vor ihr stand.
Er wartete auf sie.
Ania war müde. Der Abend war lang gewesen, und da nicht viele Kunden gekommen waren, war auch das Trinkgeld mager ausgefallen. Sie hatte sich darauf gefreut, ein Sandwich und einen Milchkaffee mit nach oben zu nehmen und ins Bett zu gehen.
Dieses Wiedersehen mit Marek nach so langer Zeit war ihr gar nicht recht.
»Was für eine Überraschung!«, sagte sie auf Englisch.
Marek antwortete auf Polnisch. »Wie schön, dich wiederzusehen. Ach, Ania, wie sehr habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt.«
»Ja«, erwiderte sie, noch immer auf Englisch, »ja, das kann ich mir vorstellen.«
Endlich gab er nach und wechselte ins
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