Wege des Herzens
gewalttätigen Vater, der meine Mutter schlägt. Ich habe weder einen Treuhänderfonds, noch beziehe ich eine monatliche Unterstützung oder was immer ich Ihnen erzählt habe. Ich stehle Kleider und Modeartikel und habe deshalb Hausverbot in den meisten Geschäften in der Grafton Street und in der Henry Street, so dass ich bereits in die Vororte ausweichen muss. Manche von diesen Sachen verkaufe ich weiter …« Eileen machte eine Pause und schaute dem Priester fest in die Augen.
»Und weil ich niemanden hatte, der mich liebt, habe ich eben jemanden erfunden. Ich habe so getan, als hätte ich eine Beziehung mit Ihnen. Inzwischen sehe ich ein, wie gefährlich, dumm und falsch das war. Aber ich war so einsam und habe mir eingeredet, wie gut mir das tun würde. Ich habe diese Geschichten alle nur erfunden. Ich habe Sie dabei beobachtet, wie Sie Ihr Passwort eingetippt haben, und dann habe ich mir aus dem Internetcafé selbst diese E-Mails geschickt. Außerdem habe ich mir im Club Ihr Handy geborgt und mir eine SMS geschickt. Und den Schlüssel aus Anias Handtasche habe ich ebenfalls an mich genommen, um mir Zugang zu Ihrer Wohnung zu verschaffen.«
Ein bleiernes Schweigen senkte sich auf die Gruppe, und Entsetzen zeichnete sich auf den Gesichtern ab, als ihnen klarwurde, welche schrecklichen Dinge Eileen getan hatte.
»Das alles tut mir unendlich leid, Brian. Können Sie mir verzeihen?«
Brian war sprachlos. Ihm fiel buchstäblich nicht ein Wort ein, das er hätte antworten können. Schließlich stammelte er: »Warum jetzt? Nach all der Zeit?«
»Eileen hat heute Morgen, als ihre Mutter gestürzt ist, einen großen Schock erlitten«, erwiderte Johnny mit leiser, sanfter Stimme. »Dabei ist ihr klargeworden, dass es Dinge im Leben gibt, die wichtiger sind als alles andere. Sie setzt jetzt völlig andere Prioritäten. Nicht wahr, Eileen?«
»Ja, ganz genau. Jetzt weiß ich, was wichtig ist und was nicht.«
Auf dem weichen, großzügigen Gesicht von Brian Flynn zeichnete sich die Bereitschaft ab, Eileen erneut in den Kreis seiner Freunde aufzunehmen, doch Johnny hatte auch dagegen vorgesorgt.
»Da es für Eileen sehr peinlich wäre, weiterhin mit Menschen zu tun zu haben, die diesen Teil ihres Lebens kennen, wird sie nicht mehr in den Club zurückkehren. Deshalb will sie sich heute Abend von Brian verabschieden und ihm vor uns allen als Zeugen versprechen, dass sie ihm von nun an aus dem Weg gehen wird, wenn er ihr verzeiht und sie nicht vor Gericht bringt.«
»Ja, so wäre es am besten«, fügte Eileen hinzu.
»Aber natürlich verzeihe ich Ihnen«, sagte Brian. »Es ist sehr mutig von Ihnen, aus eigenem Antrieb hierherzukommen …«
»Es war ihr ein Bedürfnis, zu kommen«, fiel Johnny Brian ins Wort. »Sie ist nämlich ein anständiges Mädchen, das mit einer derartigen Lüge nicht lange leben könnte. Und sie wird ihr Wort halten. Das ist das Einzige, was sie tun kann.«
Und als Goldlöckchen Eileen aus dem Corrigans ging und für immer aus ihrer aller Leben verschwand, fiel Ania auf, dass sie weder ihre schicken Stiefel noch ihre hochhackigen Lederschuhe trug; auch der Schal sah nicht so aus, als würde man damit zum Pferderennen gehen können. Ania entging auch nicht, dass Tim ein auffallendes Interesse an Lidia zeigte und sich eingehend bei ihr erkundigte, welche Art von Musik ihr am besten gefiel.
Brian wischte sich indes verstohlen über die Augen, in denen Tränen der Erleichterung und Freude standen.
»Sie sind ein sehr guter Pfaffe, Father Brian.«
»Ein guter
was?
«, fragte er.
»Jetzt muss ich
Ihnen
wohl Englisch beibringen. Das ist ein anderes, netteres Wort für Priester.«
»Nein, das ist es nicht, Ania.«
»In Anias Welt schon. Aber nachdem du noch mal mit einem blauen Augen davongekommen bist, hast du ja jetzt vielleicht Lust, deine Soutane auszuziehen und dich auf das richtige Leben einzulassen.«
»Ach, Johnny, Johnny, was weißt du schon vom richtigen Leben?«, fragte Brian und boxte seinem Freund liebevoll gegen den Arm.
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KAPITEL SECHS
M ountainview war trotz seines schönen Namens eines der verrufeneren Viertel von Dublin. Viele Drogendealer hatten sich hier eingenistet, und nachts sollte man nicht allein auf der Straße unterwegs sein. Die Mountainview-Schule hatte schon bessere Zeiten gesehen, hatte zum Glück aber auch einen Direktor, Tony O’Brien, der sich von Brutalität und Gewalt nicht einschüchtern ließ.
Für einige der älteren Lehrkräfte waren die
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