Wege im Sand
vergessen, sondern nur schöngefärbt.
Madeleines Geburtstag war nicht der wahre Grund, sondern nur der Anlass für Emmas Wochenendreise gewesen. Sie hatten sich gestritten in der Woche, als sie mitzufahren beschloss. Er hatte immer mehr Zeit im Büro verbracht. Sie hatte das neue Haus eingerichtet, das sie bewohnten, doch nun fand sie es zu protzig, zu materialistisch – das sei ihr bei der Arbeit im Dixon-Gefängnis klar geworden.
»Die Gefangenen besitzen nichts«, hatte sie gesagt. »Sie sind gezwungen, ihren Blick nach innen zu richten – ihren inneren Reichtum zu entdecken. Viele sind in Armut aufgewachsen, wurden als Kind misshandelt.«
»Und wegen dieser Entbehrungen halten sie sich an der Gesellschaft schadlos?«
»Das verstehst du nicht.«
»Wenn ich recht verstehe, sitzen einige wegen Vergewaltigung und Mord hinter Schloss und Riegel.«
»Es ist zwecklos, von dir Unterstützung zu erwarten. Wenn es um meine Überzeugungen geht. Ich bin dort, weil ich den Menschen helfen möchte.«
»Ich unterstütze dich durchaus, Emma.« Er verbarg seine wahren, unausgesprochenen Gefühle hinter einer unbewegten Miene.
»Nein, das tust du nicht.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du hast mich nur unterstützt, wenn es um ehrenamtliche Tätigkeiten in einer netten Umgebung ging – in der Kinderklinik oder in Pflegeheimen. Aber Dixon …«
»Ich mache mir Sorgen, verstehst du das nicht?«, brach es aus ihm heraus. »Das sind Häftlinge, mit denen du dort in Berührung kommst, die deine Spur bis nach Hause verfolgen könnten. Wie war das mit dem Typen, der sich deine Telefonnummer beschafft hatte? Was wäre, wenn jemand herausfindet, wo du wohnst, und was ist mit Nell? Ich will keinen von denen in unserer Nähe haben.«
»›Denen‹«, fauchte sie. »›Typen‹. Als wären sie das Letzte. Das sind Menschen wie alle anderen, die vom Schicksal benachteiligt wurden, viele von ihnen sind Analphabeten. Ich helfe Father Richard, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen – ich habe eine sinnvolle Aufgabe, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Nell großzuziehen ist in meinen Augen eine genauso sinnvolle Aufgabe.«
»Du bist so scheinheilig, Jack.«
»Hör mal, wenn dich ein verurteilter Schwerverbrecher zu Hause anruft, bin ich natürlich zutiefst besorgt.« Er holte Luft. »Tut mir Leid, wenn ich den Eindruck erweckt habe, als wollte ich deine Arbeit herabsetzen. Das war nicht meine Absicht. Ich weiß, dass du dich sehr engagierst. Aber muss es ausgerechnet in einer Strafanstalt sein? Bevor Father Richard in die Gemeinde kam …«
»Ich weiß, was du sagen willst. Aber vorher dümpelte das Fürsorgeprogramm unserer Kirchengemeinde vor sich hin. Die Ehrenamtlichen wurden irgendwo hingeschickt, als netter Zeitvertreib, damit sie sich nicht überflüssig vorkamen.«
Krebskranken Kindern in der Onkologischen Station vorzulesen war ein netter Zeitvertreib? Jack hütete sich, seine Meinung laut zu äußern. Er behielt sie für sich, obwohl er zu explodieren drohte; er dachte daran, wie fasziniert Emma von den Horrorgeschichten war, die ihr die Häftlinge erzählten, über ihr erbarmungswürdiges Leben und die schlechte Behandlung, die ihnen widerfahren war.
Knapp sechs Monate vorher hatte sie beschlossen, die Badezimmerkacheln auszutauschen. Die »alten« – noch nicht einmal zwei Jahre alt – waren mexikanisch, mit Blumen, handgemalt. Marmorfliesen gefielen ihr mit einem Mal besser. Inzwischen waren solche Kinkerlitzchen nebensächlich. Sie legte einen Feuereifer an den Tag – zum ersten Mal, wie Jack bemerkte –, wenn es um ihre ehrenamtliche Tätigkeit ging.
Jack war alles recht, was sie glücklich machte. Doch innerlich hatten die Alarmglocken geläutet – er hatte gespürt, dass die Arbeit in der Strafanstalt ein Vorwand war, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er hatte sogar den Gedanken erwogen, ob sie insgeheim für einen der Häftlinge schwärmte – vielleicht für den Typen, der bei ihnen zu Hause angerufen hatte. Jedes Mal wenn er reden oder mit ihr ausgehen wollte, war sie mit der Vorbereitung ihrer Leselektionen beschäftigt oder musste zu einem Treffen ihrer Ehrenamtlichen-Gruppe, um Möglichkeiten für nachhaltige Veränderungen im Dixon zu erörtern.
»Was stimmt nicht?«, hatte er sie eines Tages gefragt.
»Wir brauchen eine Bibliothek. Es gibt dort keine, keine richtige zumindest – nur ein paar Bücher, die von Angehörigen gespendet wurden.«
»Ich spreche nicht vom
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