Wege im Sand
versuchen sollen!« Peggy lachte schniefend.
»Solche Streiche haben sich meine Mom und meine Tante ausgedacht?«
Stevie nickte. »Wir drei – in dem Sommer, als wir uns kennen lernten und noch jung genug waren, um ungeschoren davonzukommen. Später hatten die Dinge, die wir uns unbedingt noch sagen mussten, mehr mit Jungen zu tun.«
»Oh, wie küssen im Kino?«, erkundigte sich Peggy.
»Ja, so in etwa.«
»Abartig«, meinte Peggy.
Stevie lächelte ein wenig traurig, als wüsste sie Dinge, von denen die beiden Mädchen keine Ahnung hatten. Nell schauderte – als wäre der Wind mit einem Mal kalt geworden, was aber nicht der Fall war. Sie blickte aus dem Fenster, sah die Krähen im Sumach auf Stevies Hügel.
»Ist das …?«
»Ebbys Familie«, sagte Stevie. »Wahrscheinlich hält sie mich für ihre Tante oder so. Siehst du sie? Dort drüben …«
Nell presste ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Richtig, dort hockte die junge Krähe – kleiner als die anderen, aber mit glänzendem Gefieder und hoch erhobenem Haupt. Sie dachte daran, wie wichtig die Familie war, so wichtig, dass eine kleine Krähe ihrer menschlichen Adoptivtante die Treue hielt.
»Eines wollte ich noch sagen.«
Nell drehte sich um, sah Stevie an.
»Euch beiden«, fuhr Stevie fort. »Ich wünschte, ich wäre … mit meinen beiden Freundinnen in Verbindung geblieben.«
»Mit meiner Mom und meiner Tante?«
Stevie nickte. »Wir standen uns sehr nahe. Und hatten uns geschworen, dass uns nichts trennen würde. Aber das Leben nimmt uns voll in Anspruch, wenn wir erwachsen werden, und bevor man sich versieht, vergisst man, wie man früher war, wie herrlich die Sommertage mit den allerallerbesten Freundinnen waren … bevor man aufhörte, einander zu schreiben.«
»Niemals!«, gelobte Peggy inbrünstig. »Meine Mutter und Tara haben nie aufgehört …«
»Sie sind klug, und sie hatten Glück«, sagte Stevie.
Nell schwieg, ballte die Fäuste. Sie wusste, wie es war, wenn etwas aufhörte. Wenn man jemanden so sehr liebte, dass man jedes Jahr Thanksgiving und Weihnachten miteinander verbrachte, jeden Sonntag anrief, sich an Geburtstage und Jahrestage erinnerte – und mit einem Schlag war alles aus und vorbei. »Wenn es mir schon mit euch beiden, meinen Freundinnen so ergeht«, sagte Nell mit belegter Stimme. »Wie schlimm muss es dann sein, den Kontakt zur Schwester zu verlieren? Wie kann ein Mensch aufhören, mit seiner eigenen Schwester zu reden?«
»Ich würde es nicht übers Herz bringen, kein Wort mehr mit Annie zu wechseln«, warf Peggy ein.
Stevie saß stumm da, sah Nell mit ernstem Blick an. Sie wusste offensichtlich Bescheid, spielte auf ihre Tante Maddie an. Sie erinnerte sich an die Szene oben in ihrem Atelier, vor ein paar Wochen, als ihr Vater sie in Tränen aufgelöst nach Hause tragen musste. Ihr war nun ähnlich zumute, aber sie hielt die Tränen zurück.
»Ich habe keine Geschwister, Nell«, sagte Stevie. »Aber ich habe meiner Tante Aida die gleiche Frage gestellt.«
»Was meinte sie dazu?«
»Sie sagte, dass sie es versteht … weil Geschwister miteinander aufgewachsen sind und sich sehr nahe stehen, und dann ist der Schmerz bei einem solchen Bruch noch größer. Deshalb sieht man bisweilen keinen anderen Ausweg, als davonzulaufen und sich zu verstecken.«
»Aber er zwingt mich, mich ebenfalls zu verstecken.« Nell spürte, wie die Tränen liefen. »Mich vor ihr zu verstecken, und vor dir. Ich will nicht nach Schottland.«
»Ich weiß.« Stevie öffnete die Arme, und es war Nell völlig egal, dass Peggy dabei war und sah, dass sie sich wie ein Baby benahm: Sie warf sich in Stevies Arme und weinte ohne Unterlass. Sie weinte so lange, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie spürte, wie Tillys Barthaare ihr Gesicht kitzelten, spürte Stevies warmen Atem auf ihrem Haar. Sie hätte am liebsten so verharrt.
Schließlich löste Stevie behutsam ihren rechten Arm und ergriff eine Mappe – sie erinnerte Nell an die Mappen ihres Vaters, in denen er seine Konstruktionszeichnungen verwahrte. Doch diese war aus herrlichem roten Leder und klein, passte genau unter Nells Arm.
»Die ist für dich«, sagte Stevie.
Nell blinzelte die Tränen weg, dann löste sie das rot gerippte Seidenband, das die Mappe zusammenhielt. Sie öffnete sie und blickte auf mehrere lose Blätter; sie sahen aus wie die Seiten aus Stevies Büchern, die sie in diesem Sommer durch so manche schlaflose Nacht gebracht hatten.
»Was ist das?«, fragte
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