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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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mit unserem Problem behelligen.«
    »Stevie Moore?« Mrs. Crosby zog die Augenbrauen hoch.
    »Sie ist eine Freundin von uns«, erklärte Nell.
    Mrs. Crosby schien es einen Moment lang die Sprache verschlagen zu haben. Und Nell wusste, dass sie den Augenblick nutzen musste, um zu verschwinden, bevor sie in Tränen ausbrach.
    »Ich gehe jetzt mich verabschieden, Dad.«
    »Wir fahren um zwei. Um Punkt zwei. Hast du verstanden, Nell?«
    Sie zog schweigend ihre Nase kraus und nickte – er war ihr Dad, und sie hatte ihm zu gehorchen, aber es stand nirgendwo geschrieben, dass sie sich über seine Anordnungen freuen musste. Dann rannte sie nach draußen. Sie streifte die Schuhe im Garten ab, genoss das Gefühl des heißen Teers unter ihren bloßen Füßen.
    Der salzige Wind blies durch ihre braunen Haare und brannte in ihren grünen Augen. Wie ein Tribut an ihre düstere Stimmung war der Tag bewölkt, kündigte Regen an. Ein Sturm peitschte das Meer, trieb hohe Wellen vor sich her, bis an den Strand. Sie blieb auf der Strandpromenade stehen, stemmte sich dem Ostwind entgegen.
    Er hielt sie auf. Er blies so kräftig, dass er sie jedes Mal ein Stück zurückschob, wie stark sie sich auch nach vorne lehnte. Sie schluckte den Wind, schmeckte das Meer. Sie blickte am Strand umher, bemüht, sich jede Einzelheit einzuprägen. Die bunten Sonnenschirme und Stranddecken waren verschwunden. Einige Unverwüstliche hatten sich in ihren Liegestühlen eingemummt, versuchten zu lesen, während die Buchseiten flatterten. Ein paar Jugendliche hatten sich in die Wellen gestürzt – Nell erkannte Billy McCabe und seine Freunde, und Eliza und Annie. Sie musterte die Gruppe, auf der Suche nach Peggy – bis ihr klar wurde, dass sie zu Hause war und auf Nell wartete.
    Sie verließ den Strand, lief zu dem schmalen Weg durch die Marsch. Nur zwanzig Meter vom Strand entfernt ließ der Wind nach. Hier war es geschützt, ruhig und wärmer. Ihre nackten Füße patschten durch den Schlick. Es herrschte Flut, der Bach floss über die Ufer. Sie spähte in das schlammige Wasser, sah Schwimmkrabben, die sich an das Spartinagras klammerten. Ihre Scheren blitzen azurblau im trüben Sonnenlicht auf, und sie schienen zu tanzen, bewegt von der Strömung des fließenden Gewässers.
    Als sie an die Brücke kam, die aus Holzplanken bestand, dachte sie an ihren Vater. Er verdiente mit dem Bau von Brücken seinen Lebensunterhalt. Er nahm sie nach Schottland mit, wo er auch welche errichten würde. In der ganzen Welt würde man die Brücken ihres Vaters bewundern können, doch wozu sollten sie gut sein, wenn er sie selber nicht benutzte – um sie zu überqueren und zu den Menschen zu gelangen, die ihn liebten?
    Nell balancierte auf dem verwitterten silbrigen Holz, Schritt für Schritt, dachte an die Menschen auf der anderen Seite, zu denen sie gelangen wollte: Peggy, Stevie, ihre Tante. Ihr Vater würde, wenn er könnte, eine riesige Brücke quer über den Atlantischen Ozean bauen, um zu flüchten.
    Nell rannte zu Peggys Haus und klopfte an die Tür. Peggys Mutter und Tara warteten drinnen, beide mit betrübter Miene. Peggy saß auf einem hochbeinigen Hocker an der Frühstückstheke und konnte sich nicht einmal aufraffen, den Kopf in ihre Richtung zu drehen, um ihre Freundin zu begrüßen. Die beiden Frauen umfingen Nell gleichzeitig, so dass sie in ihrer Umarmung verschwand; sie wünschte, sie könnte sich darin verstecken und bleiben.
    »Wir werden dich vermissen«, sagte Peggys Mutter.
    »Am liebsten würden wir dich entführen und bei uns behalten«, meinte Tara. »Aber mein Verlobter bekäme Ärger mit seinen Vorgesetzten beim FBI .«
    »Ich würde auch keine Anzeige erstatten«, erklärte Nell hoffnungsvoll.
    Die Frauen lachten, küssten sie auf den Scheitel. Dann wandte sie sich Peggy zu, deren Augen rot waren. Nell hatte das Gefühl, als läge ihr ein schwerer Stein im Magen. Keine von beiden war in der Lage zu sprechen. Nell deutete stumm auf die Tür, und Peggy folgte ihr achselzuckend. Ein rascher Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass es viertel nach eins war. Noch fünfundvierzig Minuten, dann lief die Gnadenfrist ab.
    Die Mädchen stiegen auf das blaue Rad, Peggy saß vorne. Sie schlug den Weg durch die Marsch ein, dann bog sie in die Einbahnstraße hinter dem Deich ab. Der Wind wehte ihnen die Haare in Augen und Mund, aber das war Nell egal. Er war warm und kräftig, eine tropische Gewitterfront; sie zog von den Inseln herauf, die der Küste

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