Wege im Sand
Kind vergönnt gewesen. Ich war der Meinung, dass du Geschwister gebraucht hättest. Ich hätte dir die Erfahrung gegönnt, die Johnny und ich machen durften. Und deine Mutter. Dann hättest du die Geschichte verstanden, mit Madeleine und … wie war gleich der Name? Ach ja, Jack.«
»Ich habe aber keine Geschwister, deshalb sag du es mir, Tante Aida.«
Sie seufzte. »Geschwister sind das Allerwichtigste auf der Welt füreinander – solange sie klein sind. Für mich war es ›Die Welt, wie Johnny sie sah‹. Er war mein Ein und Alles. Wir gehörten zur selben Familie, wohnten im selben Haus, hörten dieselbe Musik … gingen jeden Tag gemeinsam zur Schule.«
»Jack war vier Jahre älter als Madeleine.«
»Johnny war drei Jahre älter als ich …«
Stevie hörte schweigend zu.
»Das Alter ist nicht so wichtig. Was zählt, ist das Gefühl. Man wächst auf in dem Wissen, dass man sich hundertprozentig aufeinander verlassen kann. Man würde den anderen um keinen Preis enttäuschen. Wenn einem also etwas Schlimmes widerfährt, stürzt man in einen bodenlosen Abgrund. Da kann es einfacher sein, einander aus dem Weg zu gehen, als über das Problem zu reden. Oder sich ihm zu stellen.«
Stevie erinnerte sich, wie zornig Jack geworden war, als sie die Sprache auf Madeleine gebracht hatte. Er wirkte völlig außer sich – nicht nur wütend, sondern verletzt, so kam es ihr im Nachhinein vor. Als ob ihm der Bruch mit seiner Schwester etwas genommen hätte.
»Gab es bei Dad und dir jemals etwas in dieser Art?«, fragte Stevie.
Ihre Tante antwortete nicht. Sie stand auf, holte die Kaffeekanne und füllte abermals ihre Becher. Dann nahm sie wieder Platz. »Du könntest Madeleine anrufen.«
»Genau.« Das Gespräch mit Tante Aida bestätigte den Gedanken, der ihr bereits gekommen war. »Das werde ich tun.«
»Gut.«
Sie verstummten erneut, tranken den heißen Kaffee. Stevie konnte den Blick nicht von dem Bild ihrer Tante abwenden. Es spiegelte so viel Offenheit und Freiheit wider – vermittelte ein Gefühl für die Größe des Meeres, des Himmels und des Strandes. Die Serie fing die wechselnden Farben und Stimmungen am Strand ein. Stevie war beunruhigt wegen ihrer allmorgendlichen Schwimmrunde; dass sie sich jedes Mal auf das wortlose Treffen mit dem Ehemann ihrer früheren Freundin freute, brachte sie aus dem Lot. Sie hatte so viele Fehler in der Liebe begangen – und sich in den letzten Jahren von der Welt abgeschottet. Sie dachte an das Schild auf ihrem Grundstück und an Henrys Worte über die Schiffe, die an den Klippen der Liebe zerschellten.
»Was ist los?«, fragte Tante Aida, die Stevie beobachtet hatte.
»Oh, ich war mit meinen Gedanken bei Henry. Er hatte mich gerade davor gewarnt, mich wieder zu verlieben.«
»Ein ausgezeichneter Ratgeber, wenn es um solche Dinge geht«, schnaubte ihre Tante.
»Ist Doreen nicht bereit, ihm eine zweite Chance zu geben?«
»Du meinst wohl die einhundertzweite Chance! Henry hat sich auf den sieben Weltmeeren herumgetrieben und immer damit gerechnet, dass sie brav zu Hause bleibt und auf ihn wartet. Nach seiner Pensionierung meinte er wohl, er könnte einfach bei ihr aufkreuzen und würde mit offenen Armen empfangen werden. Sie wollte eine feste Bindung und Henry, bei aller Liebe und allem Respekt, eine Zimmergenossin.«
»Er liebt sie«, gab Stevie zu bedenken.
»Wirklich? Oder braucht er nur eine Frau, die für ihn da ist, wenn es ihm gerade in den Kram passt? Ich pfeife in vieler Hinsicht auf Konventionen, aber ich bin der Meinung, er hätte sie heiraten sollen. Es macht mir Kummer, ihn so traurig zu sehen. Genauso wie es mir Kummer macht, dich so traurig zu sehen …«
Stevie blinzelte, wandte den Blick ab. »Mir geht es gut.«
»Kind, das stimmt doch nicht. Das sehe ich dir an. An einem so herrlichen Sommertag machst du dir Sorgen. Die Begegnung mit Nell und ihrem Vater hat dich aufgewühlt, und es geht dabei nicht nur um Madeleine, oder?«
Stevie schüttelte den Kopf. Manchmal bedurfte es zwischen ihnen keiner Worte. Tante Aida war nach dem Tod ihrer Mutter für sie da gewesen; niemand konnte den Platz ihrer Mutter einnehmen, aber ihre Tante hatte sie ohne Wenn und Aber geliebt und kannte sie durch und durch.
»Wir bilden uns gerne ein, die Liebe sei in der Lage, alle Probleme zu lösen. Aber oft ist das Gegenteil der Fall. Sie schafft Schwierigkeiten, die uns nicht einmal im Traum eingefallen wären.«
»Liebe? Ich kenne die beiden ja
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