Wege im Sand
Kleid klebte an Madeleines Körper, aber das war ihr egal. Sie fühlte sich wieder wie ein junges Mädchen, machte eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Stevie nahm ihre Hand, zog sie den steilen Teil des verborgenen Pfades hinauf.
Sie rannten durch den Wald – Madeleine erinnerte sich an jede Handbreit des Weges. Sie erkannte die alten Eichen und schwarzen Tupelobäume, die groß geworden waren seit ihrem letzten Besuch. Die Zweige in den Wipfeln waren miteinander verwoben, bildeten einen Baldachin. Sonne und Schatten sprenkelten den schmalen Saumpfad. Plötzlich tauchte vor ihnen der verborgene Strand auf, dessen weißer Sand in der Sonne leuchtete.
Die Freundinnen eilten an das andere Ende des Strandes, hinter den mächtigen Felsen, der einem großen weißen Hai glich; sie kamen zu einer zweiten kleinen Bucht, die noch weniger Menschen bekannt war … wo Emma den Kreis in den Sand gezeichnet hatte.
»Sie ist hier, bei uns«, sagte Stevie. »Spürst du es?«
»Ja«, erwiderte Madeleine. Der Strand war mit Treibholz übersät, glatt und glänzend wie Gebeine. Stevie bückte sich, hob einen langen Stock auf und reichte ihn Madeleine. Sie sprachen nicht, verschränkten die Hände miteinander. Während sie sich langsam um die eigene Achse drehten, versuchte Madeleine, einen Ring zu zeichnen.
»Kraft der Macht, verliehen vom Vollmond der heutigen Nacht …«
»Die Mondfee«, sagte Madeleine – sie fühlte sich benommen, als ihr mit einem Mal Emmas Worte aus der Vergangenheit wieder einfielen.
Sie ließ den Stock fallen und schloss die Augen. Sie sehnte sich nach der Magie, die sie damals empfunden hatte. Sie spürte, wie ihr Blut prickelte, wie es bis in die Haarspitzen kribbelte. Aber es waren nur die Hitze und der Wind. Die Magie der Beachgirls war nicht mehr da … Emma war nicht mehr da …
»Ich kann nicht«, flüsterte sie.
Stevies Griff verstärkte sich. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich hätte dich nicht hierher bringen sollen.«
»Ich musste an Emma denken.« Madeleines Augen füllten sich mit Tränen. »Wie sehr sie den Strand geliebt hat. Dass sie hier sein sollte.«
»Sie ist hier. In der Liebe, die wir für sie empfinden.«
Madeleine schüttelte den Kopf, und die Tränen flossen. Sie konnte Stevie nicht beichten, was sie wirklich empfand – dass sich ihre lebenslange Liebe zu Emma in schwelenden Hass verkehrt hatte. Wegen dem, was sie Jack und Nell antun wollte …
»Sie ist nicht hier«, sagte Madeleine, bemüht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Am liebsten wäre sie schreiend davongerannt. Wenn sie sich nicht am Riemen riss, würde sie Stevie erzählen, was Emma ihr anvertraut hatte, jede Einzelheit, und von Jacks Miene, als Madeleine es ihm enthüllt hatte – einfach alles.
»Maddie …« Stevies Blick war besorgt.
Madeleine kniff die Augen zusammen. Emma ist nicht hier, sagte sie sich. Aber sie war es doch. Das Phantom-Schwägerinnen-Syndrom machte sich aufs Neue bemerkbar. Die Begegnung mit Stevie hatte es zum Vorschein gebracht, heftiger als jemals zuvor. Ihre ganze rechte Seite juckte. Es war, als hätte ihr rechter Arm das unbändige Verlangen, Emmas Schultern zu umfangen, sie festzuhalten, sie ins Nest zurückzuholen, in den Schoß der Familie, ins Leben – wohin sie gehörte.
»Lass uns zum großen Strand zurückkehren«, sagte Stevie sanft.
Madeleine nickte. Als sie gingen, blickte sie über die Schulter zurück: Der Kreis war noch da, im Sand, wo sie ihn gezeichnet hatte. Die Wellen brandeten ans Ufer, die Flut drang immer weiter vor. Bald würde der Ring verschwunden sein – genau wie der ursprüngliche, den Emma vor vielen Jahren gezeichnet hatte.
Glaubte sie immer noch an Magie?
Sie dachte an das brennende Verlangen, an den Wunsch, an irgendetwas zu glauben, eine Sehnsucht, die alle jungen Mädchen hatten. Die Beachgirls – Emma, Stevie und sie – hatten das Bedürfnis gehabt, sich mit den Symbolen von Sonne und Mond, mit Sand und Meer zu umgeben – um sich zu vergewissern, dass ihre heile Welt bis in alle Ewigkeit Bestand haben würde. Doch die Magie des Strandes hatte sich als Illusion entpuppt.
Wie töricht.
Als Stevie und Madeleine den Pfad hinuntergegangen und wieder am großen Strand angekommen waren, hatte Madeleine sämtliche Tränen und Spuren des »magischen« Kreises verscheucht. Sie brauchte unbedingt einen Schluck Champagner. Je schneller sie Stevie dazu bringen konnte, den Heimweg anzutreten, desto besser.
Doch als
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