Wege im Sand
sie barfuß durch das Wasser wateten, löste sich bei jedem vertrauten Anblick ein wenig mehr von ihrer inneren Anspannung.
»Wenn ich Kinder in diesem Alter sehe, denke ich an …« Madeleine starrte ein kleines Mädchen an, ungefähr vier Jahre alt, das behutsam eine Sandburg festklopfte. Die Mutter half ihr, indem sie Muschelschalen als Dekoration hinzufügte. Madeleine dachte an Nell und musste den Blick abwenden.
»Woran denkst du, Maddie?«
Da Madeleine kein Wort über die Lippen brachte, tat sie, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie wanderten weiter durch den nassen Sand, spürten, wie die Wellen ihre Knöchel umspielten. Auch jetzt schwemmte das Wasser ihre Gefühle fort, schuf Raum für den Frieden eines Sommertages. Die Flut kam, und Madeleine stieß fast mit einem Jungen zusammen, der einer Welle auswich. Halt suchend ergriff sie Stevies Arm, riss sie um ein Haar mit zu Boden.
Lachend spritzte Stevie sie mit Wasser nass, worauf Madeleine sich umgehend rächte, indem sie mit einem schnellen Tritt in hohem Bogen eine silberne Fontäne aufwirbelte. Die Tropfen waren salzig und kühl, und sie kosteten das Vergnügen noch eine Weile aus, spielten und kicherten wie in ihrer Teenagerzeit. Stück für Stück wateten sie tiefer ins Wasser hinein – Stevie in Shorts und ärmellosem T-Shirt, Madeleine im langen Kleid, den Saum geschürzt.
»Lass uns schwimmen gehen«, sagte Stevie plötzlich mit glänzenden Augen, unter ihrem Pony hervorspähend.
»Wir sind angezogen.«
»Na und? Komm!«
»So was passt zu deiner unkonventionellen Tante! Oder zu einer Frau, die auf einem Frachter um die halbe Welt gereist ist – in voller Bekleidung ins Wasser gehen, in Portofino oder Positano oder … wo auch immer, an irgendeinem glamourösen Ort! Das bringe ich nicht fertig, nicht vor den Augen all dieser braven Vorstadtbürger.«
»Das hier ist ein Strand!«
»Und wir sind in voller Montur, meine Liebe!«
»Wir machen es wie Zelda – aus dem großen Gatsby – und genießen das Leben in vollen Zügen, denn es ist wie ein Brunnen, der nie versiegt!« Stevie tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser, und als sie wieder an die Oberfläche kam, war sie wieder das junge Mädchen, das Madeleine in Erinnerung hatte – eigenwillig, kreativ, ein bisschen verrückt, was sehr sexy wirkte, und lebenshungrig. Sie sah ihr nach, als sie zum Außenpier hinaus- und zurückschwamm, die schwarzen Haare glänzend wie das Fell einer Robbe.
»Hast du einen Badeanzug mitgebracht? Willst du zum Haus hinaufgehen und dich umziehen?«, fragte Stevie, Wasser tretend.
»Nein danke – ich besitze keinen mehr.«
Der Champagner und die Wiedersehensfreude hatten Madeleine vergessen lassen, dass sie wegen ihres Gewichts Hemmungen besaß. Doch nun nahm sie die gertenschlanken, muskulösen Beine und Arme ihrer Freundin, das schmale Gesicht und die hohen Wangenknochen wahr und trat zwei Schritte zurück, aus dem seichten Wasser hinaus.
»Lass dich nicht stören. Schwimm ruhig weiter«, forderte sie Stevie auf.
»Nicht ohne dich.« Stevie blinzelte, als sie aus dem Wasser stieg und den Kopf wie ein nasser Labrador schüttelte. Sie stellte sich neben Madeleine und ergriff ihren Arm. »Eins verspreche ich dir – ich werde es schaffen, dich bis zum Ende des Sommers noch einmal herzulocken, um mich zu besuchen und mit mir schwimmen zu gehen.«
»Dann musst du eine Hexe sein«, murmelte Madeleine lachend. »Weil ich dir eines sage – schmink dir das ab, du hast keine Chance. Nicht ohne einen mächtigen Fetisch oder schwarze Magie.« Sie schauderte in der Hitze, fühlte sich unwohl in ihrer Haut und Seele. Der Aufenthalt am Strand erinnerte sie an ihr letztes Beisammensein mit Emma. Plötzlich kam es ihr so vor, als sei der Spaziergang – die ganze Reise hierher – ein riesiger Fehler gewesen.
Stevie, tropfnass, schickte sich an, am Ufer entlangzugehen, vorbei an all den Leuten, die ins Wasser gingen oder aus dem Wasser kamen, vorbei an den Frauen in ihren Liegestühlen, den Kindern, die Sandburgen bauten. Madeleine ergriff ihren Arm. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir nach Hause zurückkehren? Es ist so idyllisch dort oben …«
»Natürlich nicht – gehen wir.« Stevie machte kehrt. Sie hoben ihre Sandalen auf und nahmen die Abkürzung – über die hölzerne Fußgängerbrücke, die den Bach überspannte, und die Steinstufen hinauf in den dichten Wald. Dann bogen sie nach links ein, auf einen schmalen Pfad, den
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