Wehe Dem, Der Boeses Tut
Halbschwester wohl gerade taten.
Bei dem Gedanken blickte sie in den Rückspiegel und sah in ihre eigenen sorgenvollen blauen Augen. War sie wirklich London Danvers oder war sie nur auf einen bösen Streich hereingefallen, den ihr Vater ihr gespielt hatte? Tja, nun war es zu spät für einen Rückzieher. Jetzt war sie London Danvers, und Jason, Nelson, Trisha und selbst Zachary waren nicht nur ihre Feinde, sondern zugleich ihre nächsten Verwandten.
Sie hatte das eigenartige Gefühl, verfolgt zu werden, doch so oft sie auch in den Rückspiegel schaute, da war kein verdächtiges Fahrzeug zu sehen. Sie trat aufs Gaspedal und fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die Hawthorne Bridge. Die Reifen ihres Nova sangen auf dem Metallgitter der Brücke. So wenig es ihr auch behagte – sie musste wieder in die Stadtmitte fahren, in die Nähe des Hotel Danvers, denn das Gebäude, zu dem sie unterwegs war, lag nur drei Häuserblocks von Danvers International entfernt an derselben Straße.
Wenig später stellte Adria den Wagen auf einem Parkplatz an der Ecke ab, trank ihren Kaffee aus und griff nach ihrer Tasche. Zwar schien die Sonne auf die nassen Straßen, doch der Wind wehte kalt von der Schlucht des Columbia River herüber, fegte über den Willamette River und pfiff durch die engen Straßen der Innenstadt.
Sie hastete die Stufen zum Eingang der Bibliothek hinauf. Dabei fühlte sie einen kühlen Hauch im Nacken, als ob jemand sie beobachtete. »Du leidest unter Verfolgungswahn«, sagte sie sich, vermochte das Gefühl jedoch nicht abzuschütteln.
»Gestern auf der großen Eröffnungsfeier ist etwas vorgefallen.« Eunice Danvers Smythe besaß die unheimliche Fähigkeit, in Nelsons Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Er war gereizt und unruhig und kaute an seinem Daumennagel. Nachlässig mit einem T-Shirt und Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatten, bekleidet, hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu rasieren oder sein unbändiges blondes Haar zu kämmen. Sein Mund wirkte verkniffen. »Irgendwas ist schief gegangen«, vermutete sie und scheuchte ihre Perserkatze aus einem der Sessel.
»So könnte man es ausdrücken.« Nelson hatte es sich ihr gegenüber in seinem Sessel im Frühstückszimmer ihrer Wohnung in Lake Oswego bequem gemacht. Er hatte sie von seiner Privatwohnung aus angerufen und eine Viertelstunde später vor ihrer Tür gestanden.
»Was ist passiert?«
»Wieder mal eine Hochstaplerin.« Nelson übersah die Zeitung, die neben seinem Teller lag.
»London?«
»Das behauptet sie.«
Eunice seufzte, trank einen Schluck Kaffee und blickte an Nelson vorbei aus dem Erkerfenster. Der See, in dem sich die rasch von Westen heraufziehenden Wolken spiegelten, zeigte eine trübsinnig stahlgraue Farbe. Ein rauher Wind peitschte ein paar Gischtkronen auf.
»Sie lügt«, sagte Eunice.
»Natürlich lügt sie, aber dennoch kann sie uns Ärger machen. Wenn die Presse Wind von dieser Geschichte bekommt, gehen all die Spekulationen von vorn los, die Entführung wird wieder aufgewärmt, Reporter, Fotografen … Wie damals.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte blonde Haar.
»Es wird immer ein Problem bleiben«, sagte Eunice mit einem kleinen Lächeln, das allein ihren Kindern vorbehalten war. »Aber du musst dich damit auseinandersetzen. Vielleicht ist es sogar hilfreich. Wenn du wirklich eines Tages als Bürgermeister kandidieren willst …«
»Als Gouverneur.«
»Dann eben Gouverneur.« Sie schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Du liebe Zeit, sind wir aber ehrgeizig.« Es sollte nicht spöttisch klingen, höchstens besorgt.
In seinen Augenwinkeln erschienen kleine Fältchen, doch er lachte nicht. »Ja, allerdings. Du und ich, wir beide gehen durch die Hölle, um unsere Ziele zu erreichen, nicht wahr?«
Sie ignorierte den kleinen Seitenhieb. »Du könntest die schlechte Presse zu deinem Vorteil nutzen, wenn du es geschickt anstellst.«
»Wie denn?«
»Heiße sie mit offenen Armen willkommen«, riet sie, und Nelson starrte seine Mutter an, als habe sie den Verstand verloren. »Im Ernst, Nelson, denk doch mal nach. Du, der Verteidiger der Rechtlosen, du, der Wahrheitssucher, du, der zukünftige Politiker – hör dir ihre Geschichte an, versuch ihr zu helfen, und dann … Nun, wenn sie als Schwindlerin enttarnt wird, dann lässt du sie nicht fallen, sondern erklärst der Presse, dass sie eben eine Opportunistin ist.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Denk
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