Wehrlos: Thriller
also am Freitag bei der Beerdigung.«
Rachel bemerkte, dass Monica Olsens Kinn leicht zitterte. »Und tausend Dank, dass Sie mir angeboten haben, einen Text zu lesen. Ich werde ein Gedicht aussuchen.« Sie begleitete Rachel zur Tür. »Sacha und Sie, sie waren sehr wichtig für Christa. Sie waren ihre Familie.«
»Ja, und sie war die unsere.«
»Christa hat mir erzählt, dass Sie an einem hochexplosiven Dossier arbeiten. Und dann kam das Attentat. Sie war ganz krank. Sie hat es Ihnen sicher nicht gesagt, aber das hat sie um den Schlaf gebracht. Sie hatte Angst um Sie. Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Ja natürlich …«
»Wenn Ihre Sicherheit gefährdet ist, hören Sie auf. Sie sind jung, Sie sind hübsch, Sie werden einen Mann finden, der Sie liebt, nicht so einen wie diesen Idioten Niels … aber lassen wir das beiseite. Sie müssen Sacha erziehen, ihm Geschichten erzählen und ihn trösten. Ihr Leben und das seine sind wichtiger als der Kampf für irgendeine › gerechte Sache ‹ .«
Rachel senkte den Blick. Die Worte von Christas Freundin berührten sie, so als hätte ihre Schwiegermutter selbst sie ausgesprochen. Sie drückte ihr fest beide Hände.
»Kommen Sie mich einmal mit Sacha besuchen?«, fragte Monica.
»Versprochen.«
Sie murmelte: »Auf Wiedersehen« und entfernte sich.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Samuel warf einen Blick auf die Uhr seines Laptops, der geöffnet auf den Knien lag. Ihm blieb noch etwas Zeit. Er trank im Coffee-Shop des Hotels Mercure Astoria in Reykjavík einen Caffè Latte. Er saß bequem in einem der blau gestreiften Stoffsessel, wobei seine abgetragenen Timberlands nicht so recht zu dem schicken Teppichboden mit Tupfendesign passten. Als Hotelgast hatte er unbegrenzten Internetzugang und gab bei Google einen Suchbefehl
nach dem anderen rund um » HR 102 809 LDA /Polsen« ein. Er fluchte, er bekam keinen einzigen Treffer. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas stimme nicht, er sei auf einer falschen Fährte. Schließlich tippte er einfach nur » HR« ein und scrollte durch die Ergebnisse. Plötzlich hellte sich seine Miene auf.
■ ■ ■
Rachel bog auf die N ø rre S ø gade ein, fuhr geradeaus weiter bis zur majestätischen Königin-Luise-Brücke, nahm die N ø rrebrogade und parkte schließlich unweit des Sankt-Hans-Torv-Platzes mitten in N ø rrebro. Hier befand sich das Zentrum dieses multikulturellen und dicht bevölkerten Viertels, eines Schmelztiegels von Einwanderern, Künstlern und rebellischen Studenten.
In bestimmten Kreisen wurde das ehemalige Arbeiterviertel N ø rrebro als ein Ort beschrieben, »an dem sich weiße Dänen am Wochenende besser nicht auf die Straße wagen sollten«. Mit Sorge beobachtete Rachel die tendenzielle Zunahme von solch fremdenfeindlichen Äußerungen in der Bevölkerung. Ähnlich wie in Frankreich wurden die Einwanderer inzwischen von manch einem als Wurzel allen Übels gesehen.
Mithilfe ihres Stadtplans begab sie sich zu der Adresse, die Monica ihr gegeben hatte. Dabei kam sie an einem türkischen Café vorbei, aus dem ein Stimmengewirr in allen Sprachen der Welt zu vernehmen war, sie atmete Currydüfte ein, noch bevor sie das indische Restaurant sah, und passierte eine Pizzeria. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verkaufte ein kleiner Gemüsehändler farbenprächtige Gewürze direkt neben einer Nachtbar, deren Eisengitter heruntergelassen war. Rachel begegnete zwei verschleierten Frauen, die Kinderwagen schoben. Dieses Viertel zeigte ein ganz anderes Dänemark, das Rachel zugegebenermaßen nur gelegentlich zu sehen bekam.
Rachel bemerkte, dass sie vor der ehemaligen Adresse des Ungdomshuset, des Jugendhauses, stand, von dem 2007 heftige Unruhen ausgegangen waren. Dieser Ort war das wichtigste autonome Zentrum Dänemarks gewesen, Symbol für Rebellion und Gegenkultur. Über zwanzig Jahre lang hatten sich hier die extrem linken politischen, kulturellen und sozialen Aktivitäten in Selbstverwaltung entwickeln können. Bis am frühen Morgen des 1. März 2007 dänische Antiterrortruppen, unterstützt von Helikoptern, das Gebäude geräumt hatten. Rachel erinnerte sich gut daran. Einige Mitglieder von Green Growth hatten die »Autonomen« aus Solidarität unterstützt. Momentan war das Haus nur noch von Ratten besetzt.
Die Praxis von Doktor Wang lag direkt daneben. Der Name »Wang« war auf einer halb herausgeschraubten Metallplatte zu lesen.
■ ■ ■
Rachel stieg eine steile Treppe hinauf, auf der es nach Katzenpisse
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