Wehrlos: Thriller
roch. Sie hatte kaum im zweiten Stock geklingelt, als auch schon eine üppige junge Frau in einer orangefarbenen Tunika im Türrahmen auftauchte. Kurzes gelocktes Haar, kleine Brille und greller Lippenstift. In ihrem Rücken stapelten sich Kartons hinter zwei Sesseln, die in Plastikhüllen steckten. Der Arzt zog um. Die Frau, die sich als Sekretärin von Doktor Wang vorstellte, ging trotz ihrer Korpulenz mit leichtem Schritt hinter das einzige noch verbliebene Möbelstück, eine Empfangstheke mit Resopalbeschichtung. Sie kam mit einem weißen Umschlag zurück, der an einen Notar in Ø sterbro adressiert war.
»Hier, alle Papiere sind unterschrieben.«
Rachel war verlegen. »Nein, nein, deswegen komme ich nicht. Bitte entschuldigen Sie, ich möchte Doktor Wang sprechen. Ziehen Sie um?«
Die Frau antwortete nicht, Rachel fuhr fort: »Könnten Sie dem Doktor bitte sagen, dass ich die Schwiegertochter von Christa Kohler bin, die vor zwei Tagen gestorben ist? Ich würde gerne mit ihm sprechen.«
Die Sekretärin schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Ich erinnere mich an sie, ja. Mein Beileid. Aber der Doktor hält derzeit keine Sprechstunde ab.«
»Ich komme nicht als Patientin. Ich möchte ihn nur kurz sprechen.«
Die Sekretärin nickte. »Dann gedulden Sie sich bitte einen Moment, ich sage ihm Bescheid.«
Bevor sie ihr den Rücken zudrehte, fragte Rachel: »Entschuldigen Sie, aber ich wollte noch kurz wissen, ob Christa Kohler mit einem behinderten kleinen Jungen hier gewesen ist?«
»Ja, mit einem reizenden kleinen Buben. Ich habe ihr geholfen, ihn heraufzutragen.«
Rachel spürte ihre Knie weich werden, während die Sekretärin in dem schmalen dunklen Korridor verschwand.
Hör mal, dass er hier gewesen ist, heißt noch nicht, dass er behandelt wurde. Vielleicht hat er seine Großmutter nur begleitet .
Wenig später führte die Sekretärin sie in das Sprechzimmer von Doktor Wang.
Rachels erster Eindruck war negativ. Doktor Wang hatte alles von einem Guru. Hochgewachsen und mit eingefallenen Wangen, grau meliertem Haar und weißem Kinnbart um schmale rosafarbene Lippen. Tintenschwarze Pupillen, die sie intensiv musterten. Seine leicht geschlitzten Augen verrieten asiatische Ursprünge, doch ansonsten war das Gesicht europäisch. Die Wände, Regale und der Schreibtisch waren leer. Übrig geblieben war nur noch eine Untersuchungsliege, auf der Pakete gestapelt waren. Am Boden standen mehrere offene Kartons.
»Das mit Ihrer Schwiegermutter tut mir sehr leid«, sagte Wang und bat Rachel einzutreten. »Wirklich sehr leid.«
Die Augen des Arztes ließen nicht von ihr ab, als wollten sie in ihrer Seele nach der Wahrheit forschen. Rachel bemühte sich, dem verstörenden Blick standzuhalten und konzentriert zu bleiben.
»Christa hat Sie seit Juni mehrfach aufgesucht, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Warum genau?«
Doktor Wang zog die Brauen hoch und antwortete in übertrieben ehrerbietigem Tonfall: »Dürfte ich erfahren, warum Sie das wissen möchten?«
Rachel ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Ich muss einfach verstehen, in welchem Geisteszustand meine Schwiegermutter vor ihrem Tod gewesen ist. Für mich bleiben viele Dinge unerklärlich.«
Das stimmte tatsächlich. Christa schien seit geraumer Zeit eine Fremde für sie geworden zu sein.
»Sie machte sich Sorgen wegen ihrer Herzprobleme und stellte sich existenzielle Fragen«, erwiderte Doktor Wang.
Er sprach mit monotoner Stimme, ohne dass sich seine Gesichtszüge belebten. Ein wenig so, als trüge er eine Maske.
»Fragen welcher Art?«, beharrte Rachel.
»Sie hatte Angst vor dem Tod.«
»Wegen ihres Herzinfarkts?«
»Ja, sie war der Meinung, die klassische Medizin sei nicht in der Lage, ihr zu helfen.«
»Gab es da noch etwas anderes?«
Wang verschränkte die Hände, sein Blick war ausdruckslos, seine Sprechweise blieb monoton. »Sie wurde sehr schwer damit fertig, für die Behinderung ihres Enkels verantwortlich zu sein.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein, sie war nicht …«
»Wie dem auch sei, Christa fühlte sich verantwortlich«, fiel ihr Wang ins Wort. »Und auch machtlos. Sie war eine Mutter, die das Gefühl brauchte, unverzichtbar zu sein. Das Problem des Kleinen – den sie wie einen Sohn liebte – war auch aus diesem Grund unerträglich für sie. Daran haben wir gearbeitet.«
»Sie haben eine Art … Psychotherapie gemacht?«
»So ist es, neben einer Akupunkturbehandlung.«
»Und was haben Sie ihr geraten?«
»Dass
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