Wehrlos: Thriller
ø rrebro. Es musste Mittag sein, denn sie begegnete Leuten mit einem Kebab oder Panini in der Hand. In einer miesen Kneipe, in der es nach Frittierfett und Zwiebeln roch, kaufte sie sich ein Thunfischsandwich und ließ sich auf eine mit Graffiti besprühte Bank fallen. Gegenüber lag ein Geschäft mit schwarzer Auslage, das eine Kollektion Lederklamotten mit Nieten verkaufte. Ein aufgemalter Totenkopf prangte an der Fassade. Eine Punkerin mit Irokesenfrisur und übersät mit Piercings betrat den Laden. Rachel fühlte sich ebenso trübsinnig, wie dieses Mädchen aussah.
Mit wenigen Worten hatte Wang ihr ohnehin schon geringes Selbstwertgefühl zerstört. Seit vier Jahren verdammte sie Niels als Feigling und schlechten Vater, der sich die bessere Rolle sicherte. Dabei hatte sie sich letztlich genauso wie er verhalten, war vor ihrer Verantwortung geflohen, sobald es ging. Alle ihre Missionen zur Rettung der Biodiversität waren nur ein Vorwand gewesen, um vor der Realität zu fliehen und nicht erkennen zu müssen, dass ihr Sohn litt. Sie schluckte ein großes Stück des fetttriefenden Sandwichs hinunter, das auf ihren Lippen einen öligen Film hinterließ. Sie hatte die Last von Sachas Behinderung auf Christa abgewälzt und den Kopf immer tiefer in den Sand gesteckt. Die folgende Feststellung war noch schmerzlicher. Wang hatte – so unerträglich dies auch sein mochte – in einem weiteren Punkt recht. Sie hatte nicht aus Egoismus so gehandelt, sondern aus panischer Angst davor, zu versagen oder Fehler zu machen, und hatte so Christa die Verantwortung für die Erziehung ihres Sohnes überlassen. Sie hatte auf Sachas Appell nicht reagiert, weil sie gefürchtet hatte, der Sache nicht gewachsen zu sein, sie hatte die Flucht ergriffen, ohne es überhaupt zu versuchen. Das Schrecklichste war, dass sie dies alles im Grunde ihres Herzens seit Langem wusste, es sich jedoch nie eingestanden hatte.
Wang hatte das gut analysiert. Er war sicher kein Hellseher, eher scharfsinnig, ein kluger Psychologe, wenn seine Finger die Schmerzen eines Patienten aufspürten. Rachel bezweifelte nicht, dass Christa sich ihm bei ihren Konsultationen anvertraut und in ihm einen unverhofften Zuhörer gefunden hatte. Niels’ Flucht, Sachas Geburt, ihre Herzprobleme und ihre abwesende Schwiegertochter. Der Guru wusste wahrscheinlich mehr über Rachel als sie selbst.
Die Wahrheit wurde ihr schonungslos klar. Sie hatte sich mit Aufgaben betäubt, von denen in ihren Augen eine wichtiger war als die andere, nur um sich vom eigentlichen Problem abzulenken. Erst in diesem Sommer hatte sie erwogen, ein langsameres Tempo anzuschlagen. Das hätte ich gleich nach seiner Geburt machen müssen. Was habe ich nur getan? Diese Frage beschäftigte Rachel eine geraume Weile, während der sie ihre Gewissensbisse wiederkäute und nach einem Ausweg aus dem Labyrinth harter Selbstvorwürfe suchte.
Das Vibrieren des Handys in ihrer Hosentasche ließ sie zusammenfahren. Es war Samuel. Mein Gott, du kommst genau im richtigen Moment. Sie hob ab.
»Wie geht es dir, Darling?«
Der Reporter sprach schneller als gewöhnlich.
»So lala, und dir?«, erwiderte Rachel schwach.
»Was ist los? Du hörst dich eigenartig an.«
»Nichts Besonderes, ich bin nur etwas erschöpft. Ich freue mich, deine Stimme zu hören«, sagte Rachel ausweichend. »Hast du Neuigkeiten?«
»Schwerwiegende. Sehr schwerwiegende. Aber am Telefon kann ich dir darüber nichts erzählen. Ich bin morgen Mittag zurück. Können wir uns sehen?«
»Ja. Wo bist du?«
»In Island.«
Rachel richtete sich auf. »Machst du Witze?«
»Nein, Miss, ich bin wie du, ich gebe nie auf.« Samuel lachte voller Zuversicht und Lebensfreude. »Ich rufe dich an, sobald ich wieder in der Stadt bin. Ciao, Bella.«
Sie beendeten das Gespräch.
Rachel betrachtete erneut die schwarze Auslage mit dem aufgemalten Totenkopf. Ihre Stimmung hatte sich aufgehellt, seit sie Samuels Stimme gehört hatte. Ich gebe nie auf . Sie presste die Lippen zusammen. Okay, ich war nicht die beste Mutter, aber was geschehen ist, ist geschehen. Morgen sieht es vielleicht anders aus, wenn ich daran arbeite . Nach Christas Tod stand sie nun in vorderster Front und konnte ihre Verantwortung nicht mehr abwälzen. Sie musste kämpfen, um ihre Fehler wiedergutzumachen.
Sie spürte das Blut in ihren Adern zirkulieren. Bevor Wang sie aus der Bahn geworfen hatte, hatte er etwas Wichtiges gesagt. Rachel konzentrierte sich. Er hatte Christa geraten, »
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