Wehrlos: Thriller
Menschen, die aufrichtige Zuneigung füreinander empfinden, entzweiten diese Unterschiede sie nicht, und statt sich zu streiten, neckten sie sich wegen ihrer jeweiligen Schwächen.
Nie im Leben hätte sich Richard mit den Reeds zusammengetan, weder mit Hannibal noch mit seinem älteren Halbbruder Henry, der das exakte Abbild seines Vaters war. Niemals hätte er sich in ihre Mauscheleien verwickeln lassen. Der Hass auf den Vater war mit zunehmendem ökologischen Bewusstsein und der Erkenntnis gewachsen, welche Verantwortung dieser an der Verschmutzung von Böden, Gewässern und ganzen Landstrichen trug, obwohl er um die Gefahr wusste, die von seinen Fabriken ausging. Die erste Lektion in Zynismus hatte Richard mit vierzehn Jahren erhalten. Eine alte Fabrik der Reed Industries, die PCB produzierte, war beschuldigt worden, den Hudson River zu verseuchen. Eine ganze Armee von Anwälten, die in Hannibal Reeds Diensten stand, hatte die Fakten bestritten. Und während eines Familienessens, zu dem auch zwei Führungskräfte von Reed Industries geladen waren, hatte dieser Scherze über die eher arme Bevölkerung der Region gemacht: »Wenn sie sich so sicher sind, dass ich ihre Fische vergifte, dann sollen sie sie eben nicht mehr essen, sondern sich Fleisch kaufen wie alle anderen auch«, hatte er belustigt ausgerufen. Und alle, die um den Tisch saßen – seine Mutter eingeschlossen –, hatten mit ihm gelacht. Reed hatte schließlich die juristische Schlacht gewonnen: Wegen mangelnder Beweise war das Verfahren eingestellt worden.
An diesem Tag hatte Richard verstanden, mit wem er es zu tun hatte. Und heute konnte er es nicht gutheißen, dass seine Schwester für diesen Dreckskerl arbeitete. Zugleich aber wusste er, wie sehr ihr die väterliche Liebe gefehlt hatte und wie sehr sie seine Anerkennung brauchte.
Bruder und Schwester sahen sich an. Jedes Mal, wenn ihr Blick auf seinen mageren gelähmten Körper fiel, brach es Millicent das Herz. Seit er wegen seines Gesundheitszustands zur Familie hatte zurückkehren müssen, war er nur noch von einem Gedanken beherrscht: seiner Schwester aufmerksam zu lauschen und sich, so gut es seinem angegriffenen Gedächtnis möglich war, alles zu merken, was sie ihm über Reeds Stiftungen und Schachzüge erzählte. Dann loggte er sich über seinen augengesteuerten Computer ins Internet ein, um mühsam Rachel mit seinen wenigen Möglichkeiten zu informieren. Sobald seine Mission erfüllt wäre, würde er Millicent bitten, das Nötige zu veranlassen, damit alles aufhörte, und sich verabschieden. Denn dann hätte sein Leben keinen Sinn mehr.
■ ■ ■
Rachel und Samuel saßen in ihrem Auto und fuhren Richtung Andersen-Boulevard. Sie passierten die Langebro-Brücke und erreichten nach einem Kilometer den Ø restads Boulevard. Peter saß jetzt sicher schon im Fernsehstudio und wartete auf den Beginn der Diskussionsrunde zum Thema Fischerei. »Haltet mich auf dem Laufenden, sobald ihr etwas herausgefunden habt«, hatte er gebeten, äußerst frustriert, sie nicht begleiten zu können. Der Wagen bog in eine Seitenstraße, verlangsamte das Tempo und hielt fünfzig Meter vor einem schwarzen Hochhaus mit zwanzig Stockwerken an, das an der U-Bahn-Linie lag.
»So, nun befinden wir uns auf feindlichem Terrain«, erklärte Rachel und deutete auf die riesigen goldenen Lettern der RenokPharma.
Samuel hatte den Blick eines aufmerksamen Jägers. »Sagst du mir jetzt, wie du ihren Namen herausgefunden hast?«
»Unmöglich, eine geheime Quelle.«
Von Lommel schüttelte den Kopf. »Okay, eins zu eins.«
»Alles, was ich dir verraten kann, ist, dass diese Frau ein Ausstellerbadge für das Bella Center hat.«
»Und sie wusste, dass du auch eines hattest?«
»Ja, wie alle Green-Growth-Mitglieder, die an unserem Stand arbeiten werden.«
»Margareth Jensen, sagst du?«
»Ja.«
Samuel horchte auf. »Einer der gängigsten Namen hier, das wird nicht einfach werden. Lass uns überlegen. Wenn diese Frau gehört hat, wie ihr Chef Drohungen gegen dich ausgesprochen hat, dann deshalb, weil sie in seinem direkten Umfeld sitzt. Eine Sekretärin oder Stellvertreterin … das müssen wir uns an Ort und Stelle ansehen.«
»Das Problem ist, dass mein Name bei ihnen bekannt ist. Du hingegen mit deinem Presseausweis …«
Sie stiegen aus und betraten durch die Drehtür den Eingang der RenokPharma. Es war eine luxuriöse Halle mit weißem Marmorboden. Der lichterfüllte, helle Raum brachte die futuristischen
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