Wehrlos: Thriller
dass sie, ohne misstrauisch zu werden, darauf hereingefallen war. Auch im Aufzug, der sie in den zweiten Stock brachte und in dem leeren Krankenzimmer, in dem sie auf den »Arzt« warten sollten, waren ihr keine Bedenken gekommen. Das Ganze war zwar ungewöhnlich, aber kein Grund zur Beunruhigung. Und gleich darauf hatte der Krankenpfleger ihr die Spritze in den Arm verpasst.
Kirsten rappelte sich auf. Sie war nicht gefesselt, hatte nur furchtbare Kopfschmerzen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie in dem großen Zimmer zwei durch einen Nachttisch getrennte Betten, ein vergittertes Fenster und neben dem Eingang eine Tür, die vermutlich zum Badezimmer führte. Sie tastete nach dem Körper neben sich. Sacha schlief tief und fest, schnarchte sogar. »Hallo, Kleiner … aufwachen!« Sie versuchte, ihn hochzuheben, doch er war mit einem Gurt ans Bett geschnallt. Diesen zu lösen nahm eine gewisse Zeit in Anspruch, denn sie war noch benommen. Als Sacha befreit war, ließ sie ihn auf dem Bett liegen und ging zur Tür. Doch sie war abgeschlossen.
■ ■ ■
Rachel und Samuel stiegen aus dem Aufzug und standen vor dem leeren Wartezimmer der neuropädiatrischen Abteilung. Rechts befand sich das Sprechzimmer, in dem Rachel so oft gewesen war, links fünfzehn Krankenzimmer. Hier hatte Sacha gelegen, als er gleich nach seiner Geburt operiert werden musste, und sie hatte auf einer Liege neben seinem Kinderbettchen bei ihm gewacht. So hatte sie vierzehn schlaflose Nächte und angsterfüllte Tage verbracht und sich davon zu überzeugen versucht, dass ihr Sohn ein schönes Leben haben würde, obwohl er nie würde laufen können. Sie verabscheute diesen Ort, aber zumindest kannte sie ihn sowohl bei Tag als auch bei Nacht.
»Wir müssen überall nachsehen«, flüsterte sie.
»Wo ist das Schwesternzimmer?«
»Am Ende des Flurs neben den Toiletten und dem Wäscheraum. Es ist halb neun, gleich ist Schichtwechsel.«
»Dann müssen wir uns beeilen.«
■ ■ ■
Nachdem sie alle Möglichkeiten durchdacht hatte, ging Kirsten ins Badezimmer, machte Licht und suchte in dem Schränkchen unter dem Spiegel, in dem die Schwestern das nötige Material für die Kinderpflege aufbewahrten. Eine Schere mit abgerundeter Spitze schien ihr geeignet. Kirsten nahm sie und ging zur Tür zurück: Das Schloss befand sich in der Drehklinke und war von außen abgesperrt. Sie setzte die Schere an und versuchte, das System zu öffnen. Nach mehreren Versuchen sprang plötzlich die Tür auf. Kirsten seufzte erleichtert. Diesmal würde sie sich nicht überrumpeln lassen! Ihre Muskeln waren angespannt, der Körper unter der Wirkung des Adrenalins bereit zum Kampf.
■ ■ ■
Rachel und Samuel schlichen von Zimmer zu Zimmer und öffneten vorsichtig jede Tür. Einige waren belegt, andere frei. Doch keine Spur von Sacha und Kirsten. Als sie das Zimmer mit der Nummer 5 verließen, lauschte Samuel angespannt.
»Hörst du das?«, flüsterte er Rachel zu.
»Nein.«
»Da ist ein Geräusch …«
Sie liefen zum Zimmer 12 , aus dem mit wirrem Haar Kirsten, den Rollstuhl mit dem schlafenden Sacha vor sich, herausgeschossen kam.
»Sacha!«, rief Rachel. »Mein Gott!« Sie eilte zu ihm. »Mama ist da, mein Herzblatt, du bist in Sicherheit.« Der Kleine schlief noch immer tief und fest, und nur ein leichtes Schnarchen war zu hören. »Was ist passiert, Kirsten? Seid ihr verletzt?«
»Das erzähle ich dir später«, antwortete die Physiotherapeutin. »Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen, und zwar schnell!«
Schon war in der Nähe des Schwesternzimmers Aufruhr entstanden. »Was machen Sie da?«, rief ein Krankenpfleger, der die Statur eines Ringers hatte.
»Los, schnell!«, rief Kirsten.
Mit zwei Schritten war der Mann bei Samuel, stürzte sich auf ihn und drückte ihm den Arm auf den Rücken. Der Reporter machte sich mit einer Drehung frei. Die beiden Männer musterten einander, bereit, sich zu prügeln.
»Aufhören!«, befahl eine tiefe Stimme. Professor Hansen trat aus seinem Sprechzimmer. Die beiden Männer ließen voneinander ab, Rachel und Kirsten hatten schon den Aufzug gerufen. »Rachel, Kirsten, warten Sie«, rief der Professor.
Kirsten eilte auf ihn zu. »Professor, man hat mich betäubt und gekidnappt und den Kleinen auch.«
»Vergiss es, er steckt mit ihnen unter einer Decke«, erklärte Rachel mit finsterer Miene.
Kirsten blieb unvermittelt stehen. »Wie, unter einer Decke?«
»Er hat Sacha ohne mein Wissen
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