Wehrlos: Thriller
unterzeichnet werden würde. Hinter der Kuppel des Bella Center waren die beiden siebenundsiebzig Meter hohen Türme des Bella Sky , des größten skandinavischen Hotels, emporgewachsen. An der Spitze weiteten sich die Türme wellenförmig. Welche Ironie! Eine Welle, die uns alle überschwemmen wird.
Rachel, der plötzlich bewusst wurde, dass sie ganz allein an der dunklen Uferstraße unterwegs war, beschleunigte ihren Schritt und rannte nun beinahe.
Das Innere des Bella Center war Tag und Nacht erleuchtet. Das Zentrum bereitete sich darauf vor, in rund zehn Tagen die Organisation für den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen, kurz CITES , zu empfangen, und die Organisations-, Putz- und Montageteams waren vor Ort. Derzeit war es noch einfach, das Zentrum zu betreten, solange man ein Badge besaß, denn es gab praktisch keine Sicherheitsvorkehrungen. Rachel hatte als Aussteller Anfang Juni eine solche Codekarte erhalten. Das musste die Frau am Telefon also zwangsläufig wissen .
Beim Weltklimagipfel hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen beschlossen, die Menge an Badges für NGO s, die Nichtregierungsorganisationen, in den letzten drei Tagen drastisch zu beschränken. Von einem Tag auf den anderen war die militante Jugend aus dem Bella Center verschwunden, einen halben Kilometer entfernt in den Schnee abgeschoben, um den Honoratioren Platz zu machen, die bereit waren, im kleinen Kreis ein läppisches Übereinkommen für rechtsgültig zu erklären. Daraufhin hatte eine Dauerdemonstration rund um das Zentrum eingesetzt, das sich in einen regelrechten Bunker verwandelt hatte. Am 16 . Dezember 2009 wurden rund hundert Aktivisten festgenommen und mussten in der Kälte stundenlang in Handschellen ausharren. Grob behandelt wie Terroristen, hatte man Rachel, Frederik, Peter und Joanna in das Revier geführt, hatte sie erkennungsdienstlich behandelt und nach mehreren Stunden in Polizeigewahrsam wieder freigelassen.
■ ■ ■
Rachel ignorierte die Röntgenscanner, die noch unter durchsichtigen Plastikhüllen schlummerten, und zeigte einem der Aufseher ihr Badge. Es waren vier Aufseher, die sich am Eingang des Bella Center ständig abwechselten. An diesem Abend hatte Per Dienst. Mit seinem tragbaren Scanner las er den Strichcode ihrer Karte ein. Foto und Name von Rachel erschienen auf dem Monitor.
»Was machst du hier?«, fragte Per freundlich. »Ich habe dich lange nicht gesehen.«
»Ich überprüfe unseren Stand«, log Rachel.
Den Sicherheitsbeamten schien diese Erklärung nicht zu erstaunen, denn seit einigen Tagen war das Konferenzzentrum Schauplatz eines unaufhörlichen Kommens und Gehens der Organisatoren der CITES . Rachel betrat den Korridor, der in eine erste Halle führte, in der sich die Stände der Aussteller befanden. Sie durchquerte den Raum und gelangte durch einen weiteren Gang in die Schaltzentrale des Bella Center. Von dieser zentralen Halle aus gelangte man zu verschiedenen Sonderflächen, die sich über zwei Etagen verteilten. Im ersten Stock zeigte der Scandinavian Trade Mart eine Dauerausstellung von Designermöbeln und Designerraumgestaltung. Im Erdgeschoss links würde das Media Center bald von Journalisten okkupiert werden. Gegenüber öffnete sich ein Labyrinth von Mehrzweckkonferenzräumen neben einer Cafeteria, in der ungenießbare Snacks angeboten wurden. Hinten rechts lag das größte der vier Auditorien, das den Namen Karen Blixen trug.
Rachel öffnete eine schwere Tür und betrat einen Saal, dessen Wände mit schwarzen Vorhängen bespannt waren und der neunhundert Verhandlungsteilnehmern Platz bot. Derzeit lag er im Halbdunkel. Vor einem Podium waren Tischreihen aufgestellt. Auf jedem Tisch standen ein Schild mit dem Namen eines Landes, daneben jeweils eine kleine verstellbare Lampe und ein Mikrofon. Alle Lämpchen waren ausgeschaltet – ausgenommen eine, deren Lichtstrahl den Namen Lesotho erhellte.
Rachels Herz klopfte heftig, und sie fragte sich, wer eine solche Inszenierung vorbereitet haben mochte. Sie schob sich zwischen den Stühlen hindurch und setzte sich auf den einzigen beleuchteten Platz, legte so ruhig wie möglich die Hände auf den Tisch und holte tief Luft. Eine dichte, watteartige Stille umhüllte sie.
Sie wartete fünf Minuten in dem leeren Saal. Plötzlich war sie sicher, nicht mehr allein zu sein. Hinter ihrem Rücken atmete jemand. Rachel versteifte sich, alle Muskeln spannten sich an. Dieselbe Stimme wie am Telefon
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