Wehrlos: Thriller
beklagt sie sich oder spricht schlecht von dir. Obwohl, tut mir leid, dir das sagen zu müssen, du es verdient hättest!« Rachels Augen füllten sich mit Tränen. Wie beherzt Christa sie vor ihrem Sohn in Schutz genommen hatte! Rachel schniefte und wischte ihre Tränen ab. »Ich versuche, deinem Jungen zu erklären, dass du sein Papa bist, ich zeige ihm Fotos, damit er weiß, dass er einen Vater hat.« Der Ton wurde immer zorniger. »Aber du musst jetzt endlich nach Hause kommen und zu deiner Verantwortung stehen. So hat dich dein armer Vater nicht erzogen. Ich bin froh, dass er nicht mehr erleben muss, wie du dich verhältst.« Niels antwortete wie folgt: »Komme im März vorbei. Küsschen. Niels.« Aber das hatte er nicht getan.
Rachel wischte sich mit der Hand über ihre Wangen. Sie schniefte, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Wie hatte sie Christa bloß misstrauen können, da diese stets zu ihr gehalten hatte? Ihr Gefühlsausbruch hinderte sie daran zu bemerken, dass sie seit geraumer Zeit durch das große Fenster aufmerksam beobachtet wurde.
KAPITEL DREIZEHN
Ihr Herz tat einen kleinen Sprung, als sie die Statur des Mannes erkannte, der vor ihrer Tür stand. Sie öffnete. Samuel stand, eine Papiertüte in der Hand, im dunklen Anzug, mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte vor ihr.
»Ich war gerade hier in der Gegend. Da habe ich etwas Kuchen besorgt, ein paar Kalorienbomben. Hast du auf so was Lust?«, fragte er sie mit einem zärtlichen Lächeln.
Rachel war sich ziemlich sicher, dass der Reporter in diesem Stadtteil nichts verloren hatte und nur ihretwegen vorbeigekommen war. Sie war froh und erleichtert. Von ihren heftigen Gefühlen überfordert, hatte sie sich nach Gesellschaft gesehnt. Sie wischte sich über ihre geröteten Augen und bat ihn herein.
»Dein Sohn ist nicht da?«
»Nein, er ist mit den Nachbarn in den Zoo gegangen.«
»Ist der Laufwagen für ihn?«
Rachel nickte. »Ja.«
»Weshalb braucht er ihn?«
Die junge Frau zögerte nur kurz. »Er hat eine angeborene Missbildung der Wirbelsäule.«
Sie hatte es einfach so gesagt, als wäre es das Normalste von der Welt. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment, und damit war alles klar. Samuel begriff, was ihr Verhalten bei ihrer ersten Begegnung zu bedeuten gehabt hatte, und war betroffen. Rachel dagegen hatte das Gefühl, endlich die Wahrheit gesagt zu haben. Sie spielte nicht mehr, sondern zeigte sich ihm ohne jede Maskerade.
»Lebst du allein mit ihm?«, fragte Samuel vorsichtig.
»Ja, allein mit Kind und ohne Mann …«
Nur der Form halber hatte sie das klarstellen wollen, denn im Grunde wusste sie, dass er es wusste. Schweigend setzte Rachel Wasser auf und deutete auf den Tisch am Fenster. Samuel stellte dort den Kuchen ab und setzte sich so, dass er die auf dem Rasen spielenden Kinder sah.
Das Summen des Wasserkessels wurde lauter, bis schließlich ein durchdringendes Pfeifen ertönte. Samuel entdeckte zwei Bücher auf der Küchentheke.
»Barbara Cartland neben Das dritte Geschlecht , eine gewagte Mischung!«
Rachel lachte. »Ich bin voller Widersprüche. Du etwa nicht?«
»Ja, natürlich. Ich glaube an den Umweltschutz, aber dennoch …«
»Aber was?«
»Ach, nichts, ich wollte gerade was Dummes sagen«, unterbrach er sich selbst verlegen. Dann fragte er, um das Thema zu wechseln: »Du managst das hier also alles ganz allein?«
Rachel zuckte mit den Schultern und goss das sprudelnde Wasser langsam in die Teekanne. Dieses Ritual beruhigte sie. »Meine Schwiegermutter, Christa, hat mir sehr viel geholfen, bis sie …«
Der Satz blieb unvollendet. Samuel konnte seinen Blick nicht von Rachels Nacken lösen. Er betrachtete die kleinen rebellischen Haarlocken, die sich hinter ihren hübschen Ohren kräuselten. Er konnte ihr Parfum erahnen. Frisch, blumig. Ein Sonnenstrahl liebkoste das ovale Halbrund ihres Profils. Es war schon lange her, fand er, dass er etwas so Bezauberndes gesehen hatte. Rachel stellte die Kanne mit dem duftenden Tee auf den Tisch, nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn aus ihren ausdrucksvollen großen Augen an.
»Zucker?«
Rachel, die noch immer sehr aufgewühlt war, trank ihren Tee und beobachtete insgeheim Samuel. Eigenartigerweise war sie beinahe gerührt, als sie feststellte, dass seine Haare an den Schläfen ergrauten und er offensichtlich nichts dagegen unternahm. Das gefiel ihr. Von Lommel war und blieb ihr ein Rätsel. Sie fand ihn nervtötend und anziehend zugleich. Selbstsicher, ja fast
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