Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
kulminiert. Maria weint. Mit Leib und Seele ist sie ein einziges Schluchzen. Aber das Grab, an dem sie steht, birgt keinen Toten, sondern es ist leer. Dies durchbricht die gängigen Erwartungen auf den Tod hin. Maria entdeckt, dass der Stein, der das Grab Jesu eigentlich verschließen und damit die Toten und die Lebenden voreinander schützen soll, zur Seite gerollt ist. Maria schließt daraus: Der Leichnam wurde heimlich weggeschafft. Jetzt ist ihr auch noch der Ort ihrer Erinnerung geraubt. Das Grab ist leer.
Bei den Jüngern, die sie hierüber informiert, findet sie keine hilfreiche Unterstützung. Sie bleibt mit ihrer Verzweiflung letztlich allein. Als sie erneut ins Grab schaut, sieht sie zwei Engel. Aber auch dieses Zeichen, das zu den stärksten einer Offenbarung gehört, kann sie nicht begreifen. Orientierungslos wendet sie sich um und sieht einen Mann vor sich, den sie in ihrer schluchzenden Blindheit für den Gärtner hält. »Warum weinst du? Wen suchst du?«, wird sie gefragt. Nochmals wiederholt sie dieselben Gesten, dieselben Fragen, die ihre Verwundung ausdrücken. Aber dann ruft der Auferstandene sie bei ihrem Namen: »Mirjam«. In diesem Moment gehenihr die Augen auf, sie wird sehend und antwortet: »Rabbuni«, Meister.
Wird jetzt alles wieder so, wie es vorher war? Dieser Möglichkeit schiebt der Auferstandene sogleich einen Riegel vor, indem er sagt: »Halte mich nicht fest.« Diese Aufforderung ist merkwürdig, denn die Geste des Festhaltens ist in dieser Situation keineswegs naheliegend. Maria Magdalena musste zuvor mit ansehen, wie Jesus qualvoll am Kreuz gestorben ist. Nach menschlichem Ermessen müsste er ein malträtierter Leichnam sein, der sich nun aber frei bewegt und sich als etwas ganz anderes, bisher Unbekanntes und zutiefst Befremdliches zeigt. Nicht freudiges Zugreifen, sondern erschrecktes Zurückweichen wäre hier zu erwarten.
Mit »halte mich nicht fest« ist ein anderes Festhalten gemeint. Dabei geht es darum, jene unsägliche Macht zu brechen, die die Verwundung ausübt. Als die verzweifelte Frau weinend am Grab steht, hat die Wunde ihr Leben fest im Griff. Sie droht es zu ersticken. Jesu Worte richten sich gegen diese tödliche Macht des Todes. »Halte mich nicht fest!« fordert dazu auf, den Toten so zu entlassen, dass Heilung geschehen kann. Loslassen ist notwendig, damit Maria wieder ins Leben zurückkann. Deswegen offenbart Jesus, der nicht mehr da sein wird, ihr eine Abwesenheit, die es mit Leben zu füllen gilt. »Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.« (Joh 20,17)
Das überraschende Auftreten Jesu und seine Worte vom Loslassen bewirken eine Kehrtwende. Maria hört auf zu weinen. Sie kann wieder klar sehen. Plötzlich lässt die unsägliche Macht nach, die ihre Verwundung bisher ausübte. Maria wird von ihr befreit. Hatte die tödlicheVerwundung zuvor das Sagen, so kommt jetzt das Leben wieder zum Zug. Es ereignet sich ein Machtwechsel vom Tod zum Leben. Die tödliche Abwesenheit Jesu, die so bedrängend anwesend war, wandelt sich zu einer belebenden Anwesenheit. Auch wenn der Auferstandene wieder gehen und sich ihr niemals wieder in dieser Form zeigen wird, so bleibt er als Auferstandener dennoch heilsam präsent. In seiner schmerzlichen Abwesenheit offenbart sich ein Zeichen der Hoffnung auf Heilung und Lebendigkeit.
Maria hat Jesus zunächst für den Gärtner gehalten. Unscheinbar meldet sich jene Lebensmacht zu Wort, die Maria aus dem Zugriff des Todes entlässt. Hier findet ein unspektakulärer, aber folgenreicher Machtwechsel statt. Maria Magdalena kommt da, wo sie nur die Macht des Todes zu erwarten hatte, dem Geheimnis des Lebens auf die Spur: Das Leben steht auf aus dem Tod. Der Tod wird in seinem Zugriff auf das Leben entmachtet. Mirjam erfährt die Auferstehung, die ihr in Jesus Christus vor Augen geführt wird, am eigenen Leib. Sie tritt aus dem Machtzugriff des Todes heraus und wird neu geboren. Ihr wird selbst die Gnade der Auferstehung zuteil. Denn Jesus Christus zeigt sich ihr nicht als Toter, sondern er erscheint ihr als Auferstandener.
Der Machtwechsel, den die Auferstehung Jesu Christi bewirkt, wird zu einem Wendepunkt der Geschichte. Im Blick auf das Leere Grab, dem Ort der Verwundung und des Todes, entdeckt Mirjam die heilende Präsenz eines neuen Lebens. Die zuvor blinde Frau, die sich orientierungslos hin und her wendet, wird sehend und ergreift das Wort. Sie wird zur ersten Zeugin dessen, was
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