Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
später im Glaubensbekenntnis benannt wird – sie ist der einzigeMensch, der nach biblischer Tradition das »gestorben, begraben, auferstanden von den Toten« mit eigenen Augen gesehen hat. Zuvor war sie sprachlos und ihre Worte waren eher stumm; nun aber ist sie berufen, die Auferstehung zu bezeugen. Maria geht zu den Jüngern und sagt: »Ich habe den Herrn gesehen« (Joh 20,18). Dies sind dürre Worte für ein Ereignis, das alles umkrempelt und die bedrohliche Anwesenheit eines Toten zu einer Präsenz wendet, die Leben eröffnet. Maria Magdalena steht vor der Frage, wie sich das sagen lässt, was alle Sprache überschreitet und gerade deswegen zu Wort kommen will. Für das Geheimnis der Auferstehung, in dem sich die Liebe selbst offenbart, sind alle Worte zu dürr, zu abgenutzt, zu nichtssagend. Und dennoch will das zur Sprache kommen, was hier vorantreibt und dem Leben zum Durchbruch verhilft.
Der Machtwechsel vom Tod zum Leben geschieht in der Auferstehung Jesu Christi. Sie stellt alle Gräber unter das Zeichen des Lebens. Dabei ist entscheidend, dass die Wunden Jesu nicht einfach verschwinden. Sie markieren den Körper und bleiben sichtbar. Das Johannes-Evangelium stellt dies in einer anderen Ostergeschichte heraus, wo der zweifelnde Thomas seine Hände in die Wunden Jesu legt (Joh 20,19–29). Auch die Ikonografie greift das Motiv der bleibenden, vernarbten Wunden später auf. Jesus Christus ist an seinen »Wundmalen« zu erkennen. Die Wunden sind nicht einfach weg, aber sie bluten nicht mehr. Sie haben in der Auferstehung Heilung erfahren.
Eine besondere Bedeutung spielt die bleibende Verwundung im Verständnis Jesu als »wounded healer«, als verwundeter Heiler. C. G. Jung hat dieses Bild als Archetyp analysiert. Der niederländische Theologe und Psychologe Henri Nouwen hat es in prominenter Weise auf Jesus Christus und den christlichen Glauben bezogen. Nur wer selbst Verwundungen erfahren hat, versteht etwas von Wunden und kann Heilung eröffnen. Aber nicht alle Menschen, die verwundet sind, werden zu Heilerinnen und Heilern. Und nicht alle Wunden heilen, was ganz verschiedene Gründe haben kann. Jedenfalls reicht es im Heilungsprozess nicht aus, auf die Wunden zu starren und sich permanent an ihnen zu schaffen zu machen. Sie spirituell zu überhöhen, weil man nur mit Wunden zum »wounded healer« werden kann, ist sogar äußerst gefährlich – es bedeutet, Salz in die Wunden zu streuen und Heilung zu verhindern. Wer jedoch Heilung bei sich selbst verhindert, kann auch Anderen nicht zur Heilung verhelfen.
Maria Magdalena übersieht zunächst die Narben, die den Körper Jesu zeichnen. Jesus stellt sie ihr gegenüber nicht heraus, denn er will nicht seine Verwundung, sondern seine Heilung zeigen. Der entscheidende Punkt ist, dass Jesus verwundet wurde und in der Auferstehung Heilung erfahren hat. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig, von Jesus als geheiltem Heiler zu sprechen. Wer Erfahrungen damit hat, dass Heilung möglich ist und wie heilende Kräfte geweckt werden können, hat die Chance, dies Anderen zu vermitteln. Und auf dieses Heilungspotential kommt es an. Der christliche Glaube geht davon aus, dass Verwundungen einen Menschen nicht dauerhaft schwächen müssen, sondern dass sie die Kraft der Heilung erfahren und damit Stärke entwickeln können. Das zeigt Maria Magdalena, die sich mit Blick auf den Auferstandenen von einer stumm Weinendenzur »apostola apostolorum« wandelt, zur Apostelin der Apostel – so wird sie bereits in der frühkirchlichen Tradition genannt.
Dass Wunden heilen können und der Tod zum Leben gewendet wird, ist das Herzstück des christlichen Glaubens an die Auferstehung. Dieser Glaube ist keine blutleere Lehre und keine Vertröstung ins Jenseits. Sie bezieht sich auch nicht nur auf Jesus, sondern auf die gesamte Menschheit. Es geht darum, in Verwundungen auf das Wunder der Wandlung zu setzen, selbst wenn der Tod wie bei Jesus bereits vor der Tür steht. Auferstehung ist eine Botschaft für die Toten und für die Lebenden. Letztere sind herausgefordert, ihren Glauben an die Auferstehung als Lebenskunst zu praktizieren, so wie Maria Magdalena dies getan hat. Mit ihr nimmt der Glaube an die Auferstehung Jesu als christliche Lebenskunst ihren Anfang. Sie hat weinend und blind am leeren Grab gestanden – und hat dort Auferstehung erfahren.
Viele Legenden haben später ausgemalt, was Maria danach alles getan hat und wie sehr sie aus dem Glauben an die
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