Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Forschungsteams.
Im persönlichen Bereich zeigen sich die vielfältigen Fragen unmittelbar. Welche Krankheiten können mich verletzen, und wie kann ich mich vor Epidemien, Unfällen und Angriffen auf Leib und Leben schützen? Wie behaupte ich mich auf dem Arbeitsmarkt, wo mit harten Bandagen gekämpft wird, oder unterliege ich dem Konkurrenzdruck der vielen Anderen? Womit kann ichmeine Wohnung gegen Sturm, Feuer und Hochwasser absichern, und welchen Preis muss ich oder müssen Andere hierfür zahlen? Wie alt kann ich wohl werden und wie gut werde ich im Alter leben – werde ich ein sicheres Dach über dem Kopf, genug zu essen, eine verlässliche Gesundheitsfürsorge und erfreuliche soziale Kontakte haben? Wer wird die Pflege meines fragilen Körpers übernehmen, falls sie notwendig wird?
Wie bedeutsam die Weihnachtsfrage nach der Verwundbarkeit ist, das zeigt auch ein Blick auf jenen Diskurs in den Wissenschaften, der gesellschaftliche Fragen behandelt. In diesem Diskurs hat sich das Fachwort für Verwundbarkeit, »Vulnerabilität«, in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff entwickelt. Ausgangspunkt war eine Anregung des Nobelpreisträgers Amartya Sen, der in den 80er-Jahren den Zusammenhang von Armut und Hungerkatastrophen untersucht hat. Mittlerweile ist Vulnerabilität ein Schlüsselbegriff in so verschiedenen Bereichen wie der Klimafolgenforschung, in staatlichen Sicherheitsanalysen und Stadtentwicklungskonzepten, in der Bekämpfung von Armut, in den Forschungen zu Resilienz und Glück.
Hier stellen sich etwa folgende Fragen: Wie verwundbar ist die Ostseeküste oder eine Insel im Golf von Bengalen? Wo sind die angreifbaren Stellen eines internationalen Flughafens? Wie stark ist eine Stadt am Fluss von Hochwasser bedroht und welche Dämme braucht sie? Aus welcher Verwundbarkeit entsteht die akute Bedrohung von Regenwäldern und anderen Ökosystemen? Wo muss ein Staat das Risiko eines Krieges eingehen, um seine Grenzen zu sichern? Wie verwundbar sind Menschen, die sich in unsicheren Booten von Nordafrikanach Europa aufmachen? Wie belastbar ist die Familie einer Alleinerziehenden, die mit einem prekären Arbeitsverhältnis zurechtkommen muss? Darf die Medizin menschliche Embryonen erzeugen, töten und damit opfern, um anderen Menschen mit dem embryonalen Erbgut zu helfen?
Die Menschheit ist verwundbar – individuell und sozial, im menschlichen Körper und im Staatskörper. Wie die Menschheit mit diesen Verwundbarkeiten umgeht, entscheidet darüber, wie sie in Gegenwart und Zukunft leben kann. Es ist also kein beiläufiges, sondern ein entscheidendes Thema, das die Weihnachtsgeschichten anschlagen.
Heutige Verwundbarkeiten sind äußerst vielfältig und komplex. Daher können sie im Folgenden nicht umfassend behandelt werden. Aber sie kommen exemplarisch zu Wort in aktuellen Debatten, die global relevant sind. Dabei liegt der Fokus auf Themen, die in der Weihnachtsgeschichte direkt angesprochen werden: Geburt und Migration. So geht es zunächst um das Thema Geburt, das die Philosophin Hannah Arendt in die Debatte eingebracht hat – und das wegen des globalen Bevölkerungswachstums heute eine neue, eher prekäre Bedeutung erlangt. Dies führt wiederum zu jenen Migrationsströmen, die heute das Gesicht der Erde verändern. Hier sind Herbergs- und Herodes-Strategien aller Art am Werk, an den verletzlichen Grenzen Europas genauso wie in den Auseinandersetzungen um die Ansiedlung von Migranten und Migrantinnen an den Rändern europäischer Städte. In diesem Themenkomplex von Geburt und Migration wird exemplarisch gezeigt, was die biblischen Weihnachtsgeschichten heute zu sagen haben. Sie laden dazuein, in dem Ringen um Ungewissheit und Risiko, Schutz und Sicherheit die gewagte Hingabe ins Spiel zu bringen.
Neu geboren werden – eine beharrliche Gnade
Geburt ist ein Thema, um das man an Weihnachten nicht herumkommt. In seinem Mittelpunkt steht das Neugeborene, das in die Krippe gelegt wird, das in den Armen der Eltern Geborgenheit findet, das Menschen aus nah und fern freudig begrüßen. Geborenwerden bedeutet, neu in die Welt einzutreten. Dies ist ein zutiefst humaner Akt, der Menschen in ihrer Menschlichkeit miteinander verbindet. Weihnachten führt das Wunder des Anfangs vor Augen und fordert dazu auf, diesen Neustart zu feiern. Nicht die ausgetretenen Wege des Gewohnten, sondern die fragilen Pfade der Hoffnung sind mit ihr verbunden. Ein Prozess kommt in Gang, dessen Folgen nicht absehbar, geschweige
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