Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
denn kalkulierbar sind. Mit der Abnabelung beginnt ein Eigenleben, das manche Überraschung birgt, unerwünschte und angenehme, erschreckende und äußert erfreuliche.
Weihnachten macht das Geborensein zum Kernthema der Theologie. Aber die Theologie hat hierauf kein Monopol, denn es geht um etwas Humanes, das alle Menschen betrifft. Im 20. Jh. hat die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) das Thema Geburt auf die Agenda gesetzt. In ihrem Buch »Vita activa« von 1958 entwirft sie in dem Kapitel »Das Handeln« eine Philosophie der Natalität. Dieses Wort leitet sie vom lateinischen »natus« ab, das »geboren sein« bedeutet. Arendt bemängelt, dass sich die abendländische Philosophie geradezu mit einemTunnelblick auf den Tod ausrichtet und dabei die Geburt vergisst. In einer merkwürdigen Mischung aus Todesangst und Todessehnsucht spricht Martin Heidegger vom »Sein zum Tode«. Auch die Alltagssprache charakterisiert die Menschen als Sterbliche, statt von ihnen als Geborene zu sprechen, die zu jeder Zeit fähig sind, einen neuen Anfang zu setzen. 26 Arendt hält dem Tunnelblick entgegen, »dass Menschen zwar sterben müssen, aber deshalb noch nicht geboren werden, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen« (Arendt 1981, 242).
Der Tod macht alle Menschen gleich. Die Geburt aber steht für die Einmaligkeit der Handlungspotentiale, die jeder Mensch hat. Niemand weiß, welche Rolle ein Neugeborenes in der Familie, in der Menschheit und in unserer Welt später einmal spielen wird. Seine Handlungspotentiale liegen nicht einfach auf der Hand, sondern sie sind in einem kreativen Prozess überhaupt erst zu entdecken. »Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium , ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher […] immer wie ein Wunder an.« (166 f) Arendt nennt dieses Existenzial menschlichen Lebens »Natalität« oder »Gebürtlichkeit«. Dass der Mensch geboren wird, das ist seine große Chance. Denn Natalität bedeutet, »dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen«. (199)
In der Entwicklung ihres Natalitätskonzepts bezieht sich Hannah Arendt auch auf Jesus von Nazareth. Sie stellt heraus, dass er als Erster das Vergeben als eine Macht entdeckt hat, die Neuanfang ermöglicht. Menschen machen Fehler. Die Angst vor Fehlern mag sie davon abhalten, beherzt zuzupacken und gestaltend in den Lauf der Welt einzugreifen. Die Macht der Vergebung wirkt diesem untätigen Zögern entgegen. Menschen können Fehler machen, sie können scheitern, weil es Vergebung gibt. Das Getane ist unwiderruflich, aber die Macht zu verzeihen eröffnet einen Neuanfang. Verzeihen ist das »Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit«, genauso wie das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, das »Heilmittel gegen Unabsehbarkeit« ist (231).
Arendt schätzt das Christentum wegen der Geburt, die an Weihnachten gefeiert wird. »Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹« (243) Mit diesem Satz schließt Arendt ihre Überlegungen zur Kunst des Handelns ab. Im Rückblick von heute aus ist es sehr inspirierend, dass Arendt sich in den fünfziger Jahren so zuversichtlich und ermutigend äußert. Sie ist wahrlich keine Philosophin, die an den Schrecken der Welt vorbeischaut. Das Terrorregime des Nationalsozialismus war damals gerade erst beendet worden und übte noch immer seine unsägliche Macht aus – das sollte einige Zeit später der Eichmann-Prozess zeigen. Angesichts der Gräuel der Vernichtung wird es umso wichtiger, die Wandlungskraft der Geburt in den Blick zu nehmen. Nach christlichem Verständnis stelltdie Geburt Jesu die Welt unter das Zeichen von Vertrauen und Hoffnung, weil sie auf die Natalität der Menschheit verweist.
Die Theologie kann dieses engagierte Plädoyer als Herausforderung annehmen, ihre Themen und Anliegen stärker von der Geburt her zu betreiben und damit in gegenwärtige Debatten einzubringen – sozial, politisch, kulturell und religiös. Denn
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